Historiker: Reaktion auf Schweinegrippe erinnert ans Mittelalter

Volker Hess im Gespräch mit Jürgen König |
Wenn ein neuer Virus auftauche, sei die allererste Reaktion der Gesellschaft durch Muster geprägt, die auf Erfahrungen aus dem Mittelalter verweisen, sagt der Medizinhistoriker Volker Hess. Absperrungen, Isolation, Quarantäne - "das sind Maßnahmen, die sehr an diese alte Furcht erinnern".
Jürgen König: Ab heute steht in Berlin, Bremen und Hamburg Impfstoff gegen die Schweinegrippe bereit für eine der größten Massenimpfaktionen der vergangenen Jahre. Doch die Impfbegeisterung – nun, zu sagen, sie hielte sich in Grenzen, wäre arg untertrieben: Nur 20 Prozent der Bevölkerung will sich impfen lassen. Dabei ist die Geschichte des Impfens eine Erfolgsgeschichte der Menschheit, allerdings auch eine Geschichte voller Fiaskos. Davon soll uns Professor Volker Hess erzählen, er ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité in Berlin und zurzeit in Paris tätig. Guten Tag, Herr Hess!

Volker Hess: Guten Tag! Ich grüße Sie ganz herzlich!

König: Etwa 22.000 Menschen haben sich in Deutschland mit dem H1N1-Virus infiziert. Es gab zwei Todesfälle, die mit der Schweinegrippe zusammenhingen. Dennoch will sich nur jeder fünfte Deutsche gegen sie impfen lassen. Diese Skepsis gegenüber dem Impfen – woher kommt sie?

Hess: Ich weiß nicht, ob man das jetzt auf eine ganz generelle Impfskepsis zurückführen soll. Wenn man die Diskrepanz anguckt gegenüber sozusagen der öffentlichen Aufregung um die Schweinegrippe Anfang des Jahres und dem jetzigen doch relativ ich will nicht sagen harmlosen, aber epidemiologisch gesehen nicht dramatischen Verlauf, ist die Zurückhaltung vor der Impfung eigentlich nicht erstaunlich, sondern eher vernünftig.

König: Aber generell kann man doch schon sagen, Herr Hess, dass die Deutschen immer mal wieder begeistert sich impfen ließen, dann aber auch irgendwie immer davor zurückschreckten und es auch sehr viele Stimmen gibt, die sagen, nein, das machen wir nicht, das sei eine Zwangsverfügung des Staates über mich, das will ich nicht.

Hess: Ich weiß nicht, ob es je eine begeisterte Impfung gab. Aber impfen ist ja als Zwangsmaßnahme mehr oder weniger eingeführt worden, also, die Anfänge der systematischen Impfung gehen auf das frühe 19. Jahrhundert zurück, als man in den deutschen Ländern die neue Vakzination einführte. Und da waren die meisten, vor allem die westlich gelegenen deutschen Staaten dabei, das über eine Zwangsmaßnahme zu realisieren. Also, die Zwangsimpfung wurde in Baden relativ früh – ich glaube, 1815, in Württemberg 1818 – eingeführt, in Bayern ebenfalls sehr früh, das heißt, die Vakzination als erste große, erfolgreiche Impfung war zumindest in weiten Teilen Deutschlands eine Zwangsmaßnahme.

König: Wie hat die Bevölkerung damals darauf reagiert?

Hess: Es gibt zu der Zeit in der breiten Bevölkerung relativ wenig – zumindest ist das nicht aktenkundig – Widerstand dagegen. Es gab bereits in dieser Zeit natürlich im bildungsbürgerlichen Milieu erste Stimmen, die sich dagegen ausgesprochen haben, Marcus Herz beispielsweise. Der Berliner Arzt und Philosoph hat von einer Brutalimpfung gesprochen, nicht, weil sie so unmenschlich sei, sondern brutal, weil es vom … sozusagen Materie vom Tier übergeimpft wird. Also, die Skepsis oder der Widerstand gegen die Zwangsimpfung ist eigentlich eine Entwicklung dann der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

König: In ihrem Roman "Corpus Delicti" hat Juli Zeh das Horrorbild einer Gesundheitsdiktatur entworfen, in der jeder Bürger jeden Monat Schlaf- und Ernährungsberichte vorlegen muss, Blut- und Urinproben abgeben muss. Es empfindet ja nun mancher den Druck des Staates als unangenehme Bevormundung. Dagegen schrieb Harro Albrecht in der "Zeit", erst staatliche Eingriffe hätten uns im Lauf der Jahrhunderte ein langes, krankheitsfreies Leben geschenkt. Ich vermute, das sehen Sie auch so?

Hess: Das ist schwierig zu beantworten. Also, ich weiß nicht, ob man der Vernunft des Staates wirklich so viel Weitsicht zutrauen kann oder ob es nicht ein Teil der Selbstsorge der Bürger ist, die diese Angebote annehmen, durchaus kritisch reflektierend da auch sich damit auseinandersetzen. Ich glaube nicht, dass man über reine Disziplinarmaßnahmen eine gesundheitspolitische Maßnahme auch im 19. oder frühen 20. Jahrhundert hätte durchdrücken können.

König: Die Geschichte des Impfens als Erfolgsgeschichte – erzählen Sie uns einige der großen Erfolge, die da erzielt werden konnten.

Hess: Was ein Erfolg darstellt, ist die Vakzination, ohne Frage. Die Entdeckung von Jenner im ausgehenden 18. Jahrhundert, dass man mit der Übertragung der milden Kuhpocken auf den Menschen einer Infektion der echten Menschenpocken vorbeugen kann, das war ein Erfolg ohnegleichen. Bis heute ist ja die Pockenimpfung … sind die Pocken ja quasi ausgerottet. Das ist ein historischer Erfolg, der durch eine systematische, flächendeckende Impfung durchgesetzt wurde. Und auch die anderen Impfungen, die im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurden gegen die verschiedenen Kinderkrankheiten sind insgesamt gesehen ja ein Erfolg, weil sie die flächendeckende, also epidemische Verbreitung vieler Infektionskrankheiten schlicht und einfach beendet haben.

König: Und was für ein Erfolg das war, das macht man sich, glaube ich, gut deutlich, wenn man darüber spricht, wie mit Epidemien umgegangen wurde, bevor es das Impfen gab. Zum Beispiel im Mittelalter – was hat man da getan, um sich gegen Epidemien zu schützen?

Hess: Also, zunächst muss man ja erst mal sagen, dass an der Pest und an den Pocken, also an den klassischen großen Infektionskrankheiten, viele Tausende, wenn nicht Millionen Menschen gestorben sind. Von der Seite her ist das allein schon ein Erfolg. Die Einführung der Impfung ermöglichte einen anderen, vor allem rationaleren Umgang mit diesen Infektionskrankheiten oder mit den Epidemien. Also, Sie haben das Mittelalter angesprochen. Der schwarze Tod, also die große Seuche im ausgehenden Mittelalter, war ein Ereignis, das die Gesellschaft tief getroffen und erschüttert hat, mit einer Sterblichkeit, bei der wahrscheinlich ein Drittel der gesamten Bevölkerung gestorben ist mit einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, mit einem … nicht vorstellbaren Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben und auf die gesellschaftlichen Strukturen. Das kann man sich heute kaum noch ausmalen, was Seuche und Epidemie früher hieß.

König: Diese Angst davor, diese Furcht vor Epidemien, ist die durch das Impfen weggegangen oder hat sich so eine kollektive, wie soll ich sagen, so ein generelles Gefühl der Angst auch erhalten?

Hess: Das ist schwierig zu beantworten. Sicherlich ist … Wenn Sie in die, sagen wir, die heutige Massenpresse gucken und verfolgen, wie die Öffentlichkeit reagiert, wenn ein neuer Virus auftaucht – sei es, dass jemand an einem Ebolavirus stirbt oder dass eine neue Variante eines Grippevirus eingeschleppt wird wie eben im Frühjahr die Schweinegrippe –, dann ist die allererste Reaktion der Öffentlichkeit und unserer Gesellschaft schon durch Muster geprägt, die an solche alten Erfahrungen erinnern. Also, der Versuch, die Ausbreitung einer Epidemie zu verhindern, durch Absperrungsmaßnahmen, durch Isolation, durch Quarantäne, die ganzen Rufe, die laut werden, dass man Flughäfen kontrollieren soll, den Fluggästen Temperatur misst, sie rauszieht und so weiter – das sind so Maßnahmen, die sehr an diese alte Furcht erinnern, die eine lange, lange Tradition hat. Aber der erfolgreiche Umgang mit den Epidemien in den letzten 200 Jahren, der sich ja auch jetzt durchaus in einer gewissen Impfmüdigkeit ausdrückt, denke ich, ist eine, sagen wir, historische Relativierung dieser aus dem Mittelalter stammenden Furcht.

König: Wir haben immer mal wieder mit Hörern darüber gesprochen und geradezu hartnäckig – und deswegen möchte ich das jetzt ansprechen –, geradezu hartnäckig wurde der Vorwurf wiederholt, solche Impfungen wie jetzt zum Beispiel gegen die Schweinegrippe seien nichts als das Ergebnis von Absprachen zwischen der Weltgesundheitsbehörde und der Pharmaindustrie. Da werde Hand in Hand gearbeitet, würden Bestimmungen geändert, Warnungen ausgesprochen vor Viren, zum Beispiel, um der Pharmaindustrie lukrative Aufträge zu verschaffen. Was sagen Sie diesen Kritikern?

Hess: (lacht)

König: Da lacht Herr Hess.

Hess: Das hört sich immer noch so nach einem Verschwörungsszenario an. Natürlich gibt es Absprachen zwischen der Pharmaindustrie und der Weltgesundheitsorganisation, genauso, wie es Absprachen zwischen den Krankenkassen und der Pharmaindustrie gibt und den Standesorganisationen und so weiter. Das ist Teil eben einer nicht-direktiven … Sie haben zuvor angeschnitten, ein Disziplinarregime, was von oben nach unten bestimmte Maßnahmen durchsetzt. Diese andere Form von Absprachen, Verständigungen ist eben ein Teil eines regulatorischen Umgangs, bei dem natürlich Preise ausgehandelt werden, bei dem Strategien entwickelt werden, bei dem es auch darum zum Beispiel geht, die Pharmaindustrie dazu zu bringen, solche Impfstoffe zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass diese Absprachen allein von der Ratio der Profitmaximierung getragen werden.

König: Aber solche Absprachen gibt es schon?

Hess: Natürlich gibt es solche Absprachen, die gibt es von Anfang an, und ich habe eine Weile über das Diphterie-Antitoxinserum gearbeitet, dort gab es auch solche Absprachen, um beispielsweise den Krankenhäusern ein billigeres Impfserum, billigere Chargen zu ermöglichen. Also, das ist nicht nur eine Absprache, bei der die Pharmaindustrie profitiert, sondern bei der auch die Öffentlichkeit und die Gesundheitsorganisationen profitieren. Sonst würde es nicht funktionieren.

König: Ab heute stehen in Berlin die Impfstoffe gegen Schweinegrippe bereit. Was glauben Sie, Herr Hess, wie geht das aus? Wird das auch ein Teil der Erfolgsgeschichte des Impfens?

Hess: Ich bin mir immer noch ganz unsicher, was man eigentlich … oder gegen was man eigentlich impft. Ich bin kein Epidemiologe, aber nach den ganzen Berichten scheint ja die Schweinegrippe nicht die große Gefahr zu sein. Was man sicherlich durch diese Impfung erreicht ist, dass man die Sorge und die Angst, dass aus der Schweinegrippe etwas Schlimmeres werden könnte, bekämpft. Und wenn ich das recht verfolgt habe, dann war ja eine der Überlegungen, die Produktion des Impfstoffes anzustoßen wie auch jetzt diese Impfkampagne zu lancieren, eben nicht die Bekämpfung der aktuellen Schweinegrippe, sondern eine präventive Maßnahme, wenn es zu einem Wechsel des Erregers kommt oder wenn der Schweinegrippevirus virulenter wird.

König: Vielen Dank!

Hess: Bitte!

König: Die Geschichte des Impfens ist eine Erfolgsgeschichte – ein Gespräch mit dem Medizinhistoriker Volker Hess.