Am 28. Oktober 2019 startet die öffentliche Ringvorlesung "1989 – (K)EINE ZÄSUR?" der Berliner Humboldt-Universität, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Stiftung Berliner Mauer mit einem Vortrag von Martin Sabrow.
"1989": Indes
Zeitschrift für Politik und Gesellschaft
2019, Heft 1
127 Seiten, 21 Euro
"Transzendentale Heimatlosigkeit"
16:37 Minuten
Warum griff das SED-Regime nicht zur Gewalt, als seine Macht bedroht wurde? Die Frage sei bis heute nicht beantwortet, sagt der Historiker Martin Sabrow. Allerdings habe sich die Sicht auf die Zäsur von 1989 in den letzten Jahren merklich verändert.
Wenige Tage nach den Montagsdemonstrationen des 9. Oktober 1989 begann der Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Erich Honecker verliert alle Unterstützung bei seinen Genossen und muss in der Sitzung des Politbüros am 18. Oktober seinen Rücktritt erklären.
Die Situation war für die SED aussichtslos geworden: "Das Maß der Abwanderung, der Aufkündigung des Konsenses und der Loyalität war so groß, dass die Herrschaft vor den Augen der Herrschenden zerfiel", sagt der Historiker Martin Sabrow im Deutschlandfunk Kultur.
Die Frage, warum das Regime in dem Moment, als seine Macht bedroht wurde, nicht zur Gewalt gegriffen hat, ist bis heute noch nicht endgültig beantwortet. Die sowjetische Beistandsgarantie war zwar nicht gekündigt, aber ganz sicher war sie nicht mehr.
"Erich, es ist Schluss!" - sagte Mielke zu Honecker
Für Martin Sabrow spielt bei der von allen Seiten betonten Gewaltlosigkeit ein säkularer Prozess eine Rolle:
"Dass es nämlich nach 1945 parallel zum Aufstieg der Menschenrechte und der Individualisierung der Gesellschaften im Westen eine zunehmende Abkehr von der Gewalt als legitimem politischen Mittel gegeben hat. Diese Bereitschaft, Panzer sprechen zu lassen, Leute zusammenzuschlagen und das Wasser der Flüsse von unten nach oben laufen zu lassen, war der Hochstalinismus. Das hatte in dieser Zeit des bürokratisierten und normalisierten Sozialismus keine legitime Äußerungskraft mehr. Und deswegen sagt Erich Mielke zum Schluss: 'Erich, es ist Schluss! Wir können doch nicht mit Panzern auf die Menschen schießen! Ich akzeptiere das.' Das sagt Erich Mielke, der Inbegriff der politischen Gewaltäußerung in der DDR. Und an diesem Beispiel kann man sehen, welches Maß an Einflusskraft dieser 'soft factor' der Entgewaltung gehabt hat."
Auch die Reformer in der SED setzten auf Gewaltlosigkeit. Sie scheuten die Gewalt, weil sie sonst ihre Legitimationsgrundlage verloren hätten. So folgte nach dem Sturz von Erich Honecker der Umsturz des ganzen Systems, das die SED begründet und beherrscht hatte. Bis heute umstritten ist der Sprachgebrauch: War es eine Wende oder eine friedliche Revolution?
Martin Sabrow erinnert daran, dass nicht nur der Begriff "Wende" von Honeckers Nachfolger Egon Krenz propagiert worden ist: Am 23. November 1989 prägte er diesen Begriff auf einer Pressekonferenz. Während sich der Begriff "Friedliche Revolution" gedenkpolitisch durchgesetzt habe, erfasse, so Sabrow, der Begriff "Wende" auch die oftmals existenziellen Umwälzungserfahrungen, die sehr viele Ex-DDR-Bürger nach 1990 in ihrem privaten Leben gemacht haben.
1989 - kein "fröhlicher Endpunkt" des Jahrhunderts der Extreme
Die bisherige Erzählung lief darauf hinaus, dass das 20. Jahrhundert eines der Katastrophen war. Ein Jahrhundert der Extreme. 1989 wirkte wie eine Erlösung aus dem Zeitalter der Gesellschaftsordnungen, die "mit dem Messer an Kehle gegeneinander gestanden hatten", sagt Martin Sabrow, aber diese Perspektive habe sich inzwischen verändert:
"Diese Sichtweise, dass nun ein Reich der Freiheit angebrochen ist und diese Freiheit alles überstrahlt, scheint sich in den letzten Jahren deutlich zu relativieren und zu verändern. Wir sehen, dass 1989 nicht der friedliche und fröhliche Endpunkt einer oft furchtbaren Entwicklung war, sondern auch der Durchlauferhitzer oder auch der 'starting point' neuer Probleme, denen wir uns in der Gegenwart zu stellen haben."
Sichtbar werde, so Sabrow, dass 1989 nicht nur eine Zäsur darstellte, sondern dass es viele Kontinuitäten gibt, zum Beispiel die Kontinuität autoritärer Einstellungen. Außerdem sei 1989 nicht nur der Auftakt zur deutschen Einheit gewesen, sondern auch der Beginn einer neuen Teilung: So radikal wie in Ostdeutschland waren die gesellschaftlichen Veränderungen in Westdeutschland bei Weitem nicht.
Woher sich Rechtspopulismus in Ostdeutschland speist
Haben diese Erfahrungen mit der stärkeren Neigung der Ostdeutschen zu tun, die rechtspopulistische AfD zu wählen? Sabrow verweist darauf, dass sich besonders in Ostdeutschland gewohnte Lebensverhältnisse aufgelöst haben:
"Es gibt so etwas wie eine transzendentale Heimatlosigkeit, die sich in den von vielen öffentlichen Trägern geradezu entvölkerten Dörfern und Landschaften zeigt. Ich habe von Frank Richter, damals Leiter der Landeszentrale Sachsens, in Dresden gehört, dass Pegida-Teilnehmer ihm sagten: Da finde ich Heimat. Da finde ich Leute, mit denen ich etwas zusammen tun kann."
Das sei ein interessanter Erklärungsansatz, sagt Sabrow, und verweist noch auf einen anderen Aspekt:
"Die Stärke des Rechtspopulismus bemisst sich nicht zuletzt an der Härte seiner Abwehr. Es ist so, dass die bundesdeutsche Politiklandschaft bis in die 90er-Jahre strikt geteilt war in Konservativismus, Rechtskonservativismus, Sozialdemokratie und so weiter. Und das hat sich verflüchtigt. Es gibt von der Linkspartei bis zur CSU eine gemeinsame Sicht auf die demokratischen Werte, die es zu erhalten gilt. Und sich dagegen aufzulehnen, könnte die regionale Variante einer Rebellion darstellen, wie wir sie als Jugendrebellion in den 60er-Jahren gehabt haben. Gegen den Block des Denkens anzugehen. Und je lauter wir die Verletzung der geringsten Regel von Anstand und Solidarität beklagen, etwa in der Flüchtlingsfrage, desto lauter könnte aus der in Rede stehenden Ecke die Antwort schallen: Damit tun wir euch gerade weh. Und wir lassen uns doch von euch nicht sagen, ihr Establishment, wen wir zu wählen haben. Und wenn ihr jault, weil wir Höcke wählen, dann gerade!"
Sabrow plädiert daher für ein Maß an entschiedener Gelassenheit in dieser Auseinandersetzung.