"Die Welt ist eine Großstadt geworden"
Der Oxford-Professor denkt intensiv über das Thema Meinungsfreiheit in einer Welt nach, die zu einem Kommunikationsraum geworden ist. "Es gab zu viele Themen, die tabu waren", sagt Garton Ash. Wer zu viel "alternativlos" nenne, bekomme eben die Alternative für Deutschland.
In der global vernetzten Welt sind alle Menschen Nachbarn, meint der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash und denkt deshalb viel über Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter nach.
Im Ringen um die Meinungsfreiheit hat er drei Gruppen von Handelnden ausgemacht: Hunde, Katzen und Mäuse. Als Hunde bezeichnet er die Nationalstaaten, als Katzen die mächtigen Internetkonzerne. Und dann sind da noch die Internetnutzer – die Mäuse.
Zehn Gebote zum Schutz der Meinungsfreiheit
Er hat zehn Gebote entworfen, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Das sechste Gebot lautet zum Beispiel: "Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht alle Glaubensinhalte."
"Die ganze Welt ist eine einzige Großstadt geworden", sagt Timothy Garton Ash. "Die Frage, die sich dann stellt ist: Wie sollen die Spielregeln sein, wie steht es mit der Redefreiheit? Es geht darum, bestimmte Prinzipien herauszuarbeiten, an denen wir uns orientieren können, wenn es zum Beispiel um Hassrede geht."
Er sei selbstverständlich bereit, mit Alexander Gauland und Björn Höcke von der AfD zu diskutieren.
"Ich glaube tatsächlich, dass wir in Westeuropa und im Westen insgesamt, dass wir eine gewisse Einengung des Diskurses erlebt haben, die scheinbar liberal, aber eigentlich illiberal war. Das heißt, es gab zu viele Themen, die tabu waren. Zum Beispiel die echten Besorgnisse der Menschen über Einwanderung und eine Minderheit muslimischen Glaubens."
Tabu-Themen besser ansprechen
Garton Ash glaubt, dass diese Themen angesprochen werden müssen.
"Wenn wir diese Themen nicht offen mit robuster Zivilität ansprechen, dann kommt irgendwann ein Thilo Sarrazin – und ein wirklich schlechtes und gefährliches Buch zu diesem Thema bricht da durch und verkauft mehr als eine Million Exemplare. Wenn wir zu sehr auf den Begriff 'alternativlos' setzen, dann bekommen wir letztendlich als Alternative die 'Alternative für Deutschland'."
In der Geschichte gebe es immer wieder Parallelen, aber nichts wiederholt sich, sagt Timothy Garton Ash.
"Ich beschreibe das, was heute passiert, als Reaktion im doppelten Sinne auf 30 Jahre, in denen wir eine Welle der Liberalisierung, Europäisierung, Globalisierung und Demokratisierung gehabt haben. Das waren wirklich revolutionsartige Änderungen. Und das, was wir bei Putin, Orban oder Xi Jinping sehen, ist eine bewusste Reaktion darauf – und sie trägt reaktionäre Züge."
Das kennen man aus der Geschichte, sagt der Historiker.
"Nach der Reformation kommt die Gegenreformation, nach der Französischen Revolution kommt die Konterrevolution. Wir sollten uns als Historiker nicht allzu sehr wundern, wenn auf die liberale Revolution eine bestimmte anti-liberale Reaktion oder gar Konterrevolution folgt."
Das Schiff der Freiheit
Garton Ash ist aber überzeugt davon, dass "das Schiff der Freiheit" nicht untergehen wird.
"Es muss aber vieles geschehen, damit das Schiff der Freiheit nicht untergeht. Wir müssen vielleicht erst einmal anfangen anzuerkennen, dass die Freiheit wirklich bedroht ist, auch in Europa immer wieder – und wir müssen die Freiheit verteidigen. Da gibt es vieles, was wir tun müssen: von der Sicherheitspolitik über eine ganz klare Strategie gegen Desinformation, wie sie von Putin und anderen ausgenutzt wird, bis zu einem Verstehen der Menschen, die für die Populisten gestimmt haben. Sie sind nicht alle Reaktionäre. Wir müssen uns fragen, woher das kommt. Da spielen viele Elemente eine Rolle."
Es gebe eine Ungleichheit der Aufmerksamkeit und des Respekts. Viele Bürger in Großbritannien und in den USA hätten das Gefühl, nicht wahr- und ernst genommen zu werden von den Eliten und den Medien. Sie seien verunsichert und suchten dann Sicherheit bei einem nationalen Gemeinschaftsgefühl.
"Sicherlich haben wir den Liberalismus zu sehr auf den Wirtschaftsliberalismus reduziert, und das hat bei uns und in Amerika zu großen Ungleichheiten geführt."