Zu viel Stasi, zu wenig SED
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Die Verlängerung der Stasi-Überprüfung im öffentlichen Dienst sei "Schein-und Symbolpolitik", kritisiert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk - und fordert eine umfassende Aufklärung der gesamten SED-Diktatur.
Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst werden bis 2030 verlängert. Das sieht die Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes vor, die heute im Kabinett verhandelt wird und noch in diesem Jahr im Bundestag verabschiedet werden soll.
Die bisherige Regelung läuft zum 31. Dezember aus. Union und SPD hatten die Fristverlängerung deshalb bereits in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wer in politisch oder gesellschaftlich hervorgehobener Position tätig sein will, muss sich auch künftig auf eine frühere hauptamtliche oder inoffizielle Stasitätigkeit prüfen lassen.
Da kaum noch jemand da sei, der überprüft werden könne, handele es sich um eine "Schein- und Symbolpolitik", kritisierte der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die Gesetzesinitiative im Deutschlandfunk Kultur. Er ist Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde, dort allerdings gerade wegen eines Buchprojekts beurlaubt, und hat zahlreiche Bücher zur DDR-Geschichte geschrieben. Im vergangenen Jahr seien nur wenige hundert Personen überprüft worden, von denen man sich nur drei oder vier Fälle genauer habe ansehen müssen.
Einseitige Orientierung auf die Stasi
Angesichts der Jubiläen von 30 Jahren Revolution und 30 Jahren Deutsche Einheit sollte die ganze Aufarbeitungspolitik und –praxis noch einmal hinterfragt werden, sagte der Historiker.
Die Geschichte der DDR sollte nicht nur als Stasi-Diktatur aufgearbeitet werden, betonte er und forderte, die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
"Die Verlängerung dieser Fristen verlängert jetzt gewissermaßen diese einseitige Orientierung auf die Stasi, ohne dass das einen großen Nutzen hat", sagte Kowalczuk.
Plädoyer für mehr Augenmaß
Ein hauptamtlicher Funktionär in einer Blockpartei oder in der SED habe unter Umständen viel schlimmere Dinge zu verantworten als ein kleiner Stasi-Spitzel. "Man muss hier für Augenmaß plädieren", sagte Kowalczuk. Aber die deutsche Öffentlichkeit sei dazu offenbar nicht bereit. Wer solche Fragen thematisiere, laufe immer noch Gefahr, als "Verharmloser" zu gelten, denn die gesamte Aufmerksamkeit richte sich seit drei Jahrzehnten vor allem auf die Staatssicherheit.
"Die Stasi war ein Instrument der SED und nicht umgekehrt", sagte der Historiker. Es wäre besser, das ganze Stasi-Unterlagengesetz noch einmal zu überarbeiten und zukunftstauglich zu machen, sagte Kowalczuk. Stattdessen gebe es nur "Flickschusterei mit dieser Fristverlängerung".
(gem)