Andreas Kossert: "Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945"
Pantheon Verlag, 2009, 432 Seiten, 16 Euro
Fremde als Mahnung an die eigene Schuld
07:05 Minuten
Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren ist untrennbar mit Millionen von Flüchtlingen verbunden, die aus dem Osten nach Westdeutschland kamen. Doch wie unsere Gesellschaft heute taten sich die Deutschen damals schwer mit den "Ostflüchtlingen".
Stephan Karkowsky: 75 Jahre Kriegsende, großes Thema – klar – diese Woche in allen Medien. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg ist das ein Gedenktag, der 8. Mai, im Bundestag Berlin sogar ein einmalig gesetzlicher Feiertag. Die Berliner haben also frei am 8. Mai. Heute wollen wir über Flüchtlinge reden zum Thema, besser gesagt, über Vertriebene, und da kennt sich kaum jemand so gut aus mit deren Geschichte wie der Historiker Andreas Kossert. Von ihm stammt das Standardwerk "Kalte Heimat".
Zwölf bis 14 Millionen Deutsche hatten ihre Heimat verloren, ihre Häuser und Wohnungen, und kamen nun als Obdachlose in ein zerstörtes Deutschland, wo jeder ja selbst ums Überleben kämpfte. Eigentlich kein Wunder, dass sie hier nicht so richtig willkommen waren, oder?
Kossert: Ja und nein, aber Sie haben gerade den 8. Mai angesprochen und den Nationalsozialismus, und letztendlich sind die Vertriebenen und Flüchtlinge, die in das zerstörte, besetzte Nachkriegsdeutschland kamen, ja auch … Das ist eine Folge des Zweiten Weltkrieges. Und sie wurden kollektiv von den Alliierten mit Heimatverlust bestraft. Und das bedeutet natürlich, dass in diesem Augenblick Deutsche, die ihre Heimat behalten konnten, und die, die sie verloren hatten, zusammenleben mussten. Und das ist natürlich auch eine Frage der Solidarität im Angesicht einer Niederlage: Wie geht man miteinander um?
Und vor allen Dingen sind die Vertriebenen dann auch nicht in die zerstörten Städte gekommen, denn die hatten zumeist Zuzugssperre, sondern sie kamen aufs Land, und das heißt, dort fanden sie nach Flucht und Vertreibung zum Teil ja doch noch relativ intakte Lebenswelten vor, wo das Leben eigentlich in einem Alltagsrhythmus vonstatten ging, wo man manchmal gar keine Spuren von Krieg erlebt hatte. Und das hat eben zu ganz starken sozialen Spannungen geführt, und vor allen Dingen auch deshalb, weil diese Menschen natürlich zwangseinquartiert werden mussten, das heißt, jeder Einheimische musste Vertriebene und Flüchtlinge aufnehmen.
Karkowsky: Das war auch bei uns so, in meiner Familie, am Namen Karkowsky können Sie erkennen: der Vater aus Pommern vertrieben. Aber woran konnte man denn nach dem Krieg überhaupt die Flüchtlinge erkennen? Wie konnte man sie von den Einheimischen unterscheiden? Sahen die anders aus, sprachen die anders?
Kossert: Ja, im Nachgang gab es natürlich so ein Narrativ der gelungenen Integration, und Deutsche kamen zu Deutschen, aber das war nicht so. Fremdheit war ja früher schon oftmals das benachbarte Dorf. Und wenn man sich vorstellt, da kamen evangelische Ostpreußen ins tiefkatholische Oberbayern – also das hat schon auch kulturelle Fremdheiten gegeben. Man verstand eben die Dialekte zum Teil gar nicht. Aber letztendlich waren das nicht solche kulturellen Fremdheiten, wie sie heute sind, wo zum Teil ja sogar auch die Religion eine andere ist.
Eine Willkommenskultur muss man sich leisten können
Karkowsky: Und die Mentalitäten, gab es da Unterschiede?
Kossert: Ja, auf jeden Fall. Ich sage mal, die Böhmen, die Sudetendeutschen waren sicherlich durch ihre katholische, lebensfrohe Art, als sie dann nach Ostfriesland etwa kamen, wo man reformiert war – wo man eher, ich sage mal, reserviert war, sich nicht gerne öffnete –, dann auch eine kulturelle Herausforderung, wenn dann so ein fröhlicher Sudetendeutscher in Ostfriesland ankam.
Karkowsky: Ich habe nie was gehört von Fremdenfeindlichkeit aus meiner Familie, dass man da schlecht empfangen wurde. Aber wie war das denn tatsächlich nach dem Krieg? Eine Willkommenskultur muss man sich ja offenbar leisten können. Waren durch den Krieg die Hilfsbereitschaft, das Verständnis für das Leid anderer und die Solidarität denn gänzlich verschwunden, weil man gezwungen wurde, diese Flüchtlinge aufzunehmen?
Kossert: Ja, ich glaube, dieser Zwang spielte eine ganz große Rolle, warum sie nicht willkommen waren, und vor allen Dingen, als sich dann herausstellte, dass sie keine Rückfahrkarte hatten, dass sie also auf Dauer bleiben würden. Man war während des Krieges evakuierte Bombenflüchtlinge gewohnt, aber die sind dann irgendwann wieder gegangen – aber die Vertriebenen bleiben ja. Und natürlich waren die Vertriebenen auch für den Rest der Deutschen nach Kriegsgesellschaft eine ungeliebte Mahnung an den gemeinsam verlorenen Krieg, denn sie personifizierten letztendlich ja auch die eigene Verantwortung, die eigene Schuld für zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur.
Einander als Reichtum betrachten
Karkowsky: Heute nennen wir diese Mammutaufgabe, also einen großen Teil von Menschen in die eigene Gesellschaft zu integrieren, genau das: Integration. Wie hat man damals darüber gesprochen?
Kossert: Also ich sehe den Integrationsbegriff generell sehr skeptisch, weil wir sehr oft von Integration sprechen, wenn wir eigentlich Assimilation meinen, also: Haltet die Klappe und passt euch an. Und ich glaube, das ist das, was man damals unter Integration im Großen und Ganzen verstanden hat, denn Sie kommen aus einer Flüchtlingsfamilie, aber letztendlich: Wo ist das Erbe Pommerns, quasi Ihrer Vorfahren heute noch wirklich bewusst in der deutschen kollektiven Identität vorhanden? Also, ich glaube, dass die Spuren sich nach 75 Jahren verlieren. Wir tragen es in unseren Familienbiografien vielleicht mit uns, aber letztendlich gibt es kaum gesamtgesellschaftliche Erinnerung daran. Und das zeigt eben: Wird Integration … Muss es nicht eigentlich bedeuten, dass wir uns gegenseitig als Reichtum, als kulturellen Reichtum auch wahrnehmen, dass Vertriebene und Flüchtlinge was mitbringen, was auch für die Gesamtgesellschaft wichtig ist?
Karkowsky: Wir leben heute natürlich in einer Wohlstandsgesellschaft, die Situation ist eine gänzlich andere als nach dem Krieg. Und dennoch gibt es in einem kleinen Teil der Bevölkerung noch immer diese Angst vor dem Fremden, diese Vorurteile, die fehlende Empathie bei Fluchtgeschichten. Wie erklären Sie sich das?
Kossert: Also das ist wirklich interessant, dass jetzt Flüchtlinge und Vertriebene zu uns kommen und natürlich die Ausgangsbedingungen gänzlich anders sind, aber Flüchtlinge erinnern uns generell überall auf der Welt an unsere eigene Wurzellosigkeit, dass auch wir selbst als vermeintlich Sesshafte irgendwann einmal von diesem Schicksal betroffen werden können. Und das ist, glaube ich, eine Urangst der Sesshaften, wenn sie Flüchtlingen quasi gewahr werden, dass dort etwas passieren kann, dass ein Schicksal auch der eigenen Obdachlosigkeit sie treffen kann.
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