Frank Wolff: "Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961-1989"
Suhrkamp Taschenbuch, erscheint am 9. September 2019
1026 Seiten, 36 Euro
Einseitiges Gefühl einer kulturellen Nachholschuld
08:52 Minuten
Vor 30 Jahren fiel die Mauer - und die Prägungen sind nach wie vor sehr lebendig. Die Nachwendezeit sei ein Prozess, der noch immer verarbeitet werden müsse, sagt der Historiker Frank Wolff. Er müsse vom Westen her ebenso gelebt werden wie vom Osten.
Immer noch treten sie deutlich hervor: Unterschiede in den Werten und Haltungen der Menschen in westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern. Besonders an der Stärke der AfD in den ostdeutschen Ländern wird deutlich, dass die politische Landschaft dort eine andere ist als im Westen der Republik. Im Wahlkampf in Brandenburg, Thüringen und Sachsen kann man beobachten, dass die AfD eine vermeintliche Ostmentalität bedient und sich diese unter anderem auf Wahlplakaten – "Wende 2.0" – zunutze macht. Doch ist diese "Ostprägung" nicht möglicherweise in Teilen erst nach der Wende entstanden?
Der Historiker und Migrationsforscher Frank Wolff, Privatdozent an der Universität Osnabrück und selbst in Dresden geboren, sagt dazu: "Das 'Immer noch' oder das 'Woher kommt das eigentlich' wird heute natürlich immer wieder neu erfunden. Wir befinden uns ja in keiner historischen, direkten Verbindung zur Vergangenheit, sondern immer wieder in unserem Blick zurück. Und durch den Blick zurück entstehen auch politische Möglichkeiten, die von der einen oder anderen Partei – wie heute auch – aktiv genutzt werden, um Fiktionen zu kreieren."
Prägungen bestimmen das Handeln - aber wie stark?
Auf der anderen Seite, so Wolff weiter, gebe es aber sicherlich auch feste Prägungen, die weite Teile der Bevölkerung, die heute noch in Ostdeutschland lebe oder auch von dort weggegangen sei, nach wie vor beeinflussten. Wie stark dies aber das Denken und Handeln wirklich bestimme, sei wissenschaftlich schwierig zu beantworten.
Die Menschen, die in der DDR aufgewachsen seien, teilten mit vielen Osteuropäern eine gemeinsame Erfahrung: "Die Mauer fiel und ein neues Wirtschaftssystem entstand." Das weltweite Phänomen des Neoliberalismus seit den 80er-Jahren sei in Westdeutschland durch bestehende Sozialstrukturen, durch die soziale Marktwirtschaft und Gewerkschaften abgedämpft werden können – im Osten jedoch sei "ein freies Feld" gewesen, auf dem dann plötzlich Investoren-Logik statt sozialer Logik geherrscht habe.
Erlebnisse in der Nachwendezeit, die verbinden könnten
Wolff, der sich mit deutsch-deutscher Gesellschaftsgeschichte zur Zeit der Berliner Mauer beschäftigt und im September ein Buch dazu veröffentlichen wird, sagte weiter: Hilfreich bei der Verarbeitung der Wiedervereinigung könne sein, sie "als Prozess zu denken, der von Westen her ebenso gelebt werden muss wie von Osten". Auch viele Regionen im Westen wie etwa das Ruhrgebiet hätten in den Nachwendejahren harte Zeiten erlebt. Indem man sich dies vor Augen führe, könnten sich mehr Gemeinsamkeiten im sozialen und politischen Leben entdecken lassen.
Bis heute habe er allerdings den Eindruck, dass er bei Vorträgen sein Forschungsthema gegenüber Ostdeutschen anders erklären müsse als gegenüber Westdeutschen: "Der größte Unterschied ist meiner Meinung nach der, dass Personen, die aus der ehemaligen DDR kommen, oft das Gefühl einer kulturellen Nachholschuld haben – sich mit der Kultur der 60er, der 70er, der 80er in Westdeutschland zu beschäftigen. Und dass es das auf der anderen Seite nicht gibt."
Sein persönlicher Eindruck sei, dass Menschen in West- oder Süddeutschland wenig Interesse an dem hätten, "was das Leben in der DDR geformt hat. Umgekehrt wird es aber natürlich verlangt, dass man dieses Interesse zeigt. Und das finde ich schon eine problematische Diskrepanz."
(mkn)