Vorbild trotz Schwächen und Fehlern
13:21 Minuten
Sophie Scholl wurde wegen ihres Widerstandes gegen die Nazis hingerichtet. Einiges, was über sie erzählt wird, gehöre aber ins Reich der Mythen, sagt der Historiker Robert M. Zoske.
Shelly Kupferberg: Sophie Scholl, Widerstandsikone aus der Gruppe der Weißen Rose, sie ist sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland nach dem Krieg zum Sinnbild der Widerstandsbewegung gegen Hitler geworden, in vielen Büchern beschrieben, Stoff diverser Filme. Und so meinen viele Menschen, bereits ein ziemlich genaues Bild dieser jungen Frau zu haben, die Flugblätter gegen den Krieg, gegen Hitler und für die Freiheit verteilte und dafür hingerichtet worden ist. Im kommenden Jahr wäre Sophie Scholl 100 Jahre alt geworden, und jetzt schon erscheint ein neues Buch über sie: "Sophie Scholl: Es reut mich nichts: Porträt einer Widerständigen". Autor ist der Historiker und evangelische Theologe Robert M. Zoske.
Projektionsfläche für Ideen
Wie kommt es eigentlich, dass gerade Sophie Scholl so eine große Berühmtheit erlangte in den Geschichtserzählungen in Ost- und Westdeutschland?
Robert M. Zoske: Die einzige Frau, dazu noch eine junge Frau, ein wunderbares Bild, an dem man sich dann auch bestimmte Ideen ableiten kann oder auf das man Ideen projizieren kann. So hat sich Sophie Scholl über die Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt zu dem Vorbild – ganz stark gefördert durch Inge Scholl, die ältere Schwester, die ihr Leben gewidmet hat tatsächlich Sophie Scholl und Hans Scholl, um sie als Vorbilder zu malen, zu stilisieren vielleicht sogar.
Kupferberg: Sie haben bereits über die Weiße Rose und Hans Scholl viel und intensiv gearbeitet, dazu auch promoviert. Wie kommt es denn, dass Sie sich nun noch einmal so ausführlich Sophie Scholl gewidmet haben, ist da nicht schon alles gesagt, alles geschrieben, alles gezeigt worden?
Kupferberg: Sie haben bereits über die Weiße Rose und Hans Scholl viel und intensiv gearbeitet, dazu auch promoviert. Wie kommt es denn, dass Sie sich nun noch einmal so ausführlich Sophie Scholl gewidmet haben, ist da nicht schon alles gesagt, alles geschrieben, alles gezeigt worden?
Zoske: Mein Bestreben war tatsächlich, ein neues Porträt zu malen von Sophie Scholl und sie von manchen Interpretationsmythen ja sogar Gestrüpp zu befreien und an Sophie Scholl noch einmal historisch kritisch heranzugehen und zu sagen, was ist Legende, was ist gesichert und was ist ungesichert und was ist Fantasie.
Kupferberg: Welche Mythen, welche Legenden sind das zum Beispiel?
Zoske: Ein Mythos ist zum Beispiel, dass Sophie Scholl schon ganz früh sich für eine jüdische Mitschülerin eingesetzt hat und dass sie damals schon sich 1934, im zarten Alter von 12 oder 13 Jahren, gespürt habe, dass Antisemitismus etwas Schreckliches sei – eine Idee, die tatsächlich erst 1980 von Inge Scholl geboren wurde und die heute nicht mehr haltbar ist, weil es eine Fantasie ist, die Inge Scholl sich ausgedacht hat, um eine Antwort darauf zu geben, Sophie Scholl, wie war denn das mit dem Holocaust. Darauf gibt es eigentlich kaum Antworten, aber Sophie Scholl musste dann auch gegen den Antisemitismus sein. Und es ist die Fantasie, dass sie die führende Gestalt in der Weißen Rose gewesen ist. Das gilt für den zweiten Teil des Widerstandes, den zweiten Teil der Flugblattaktion ab Herbst 1942, aber davor waren es ganz eindeutig Hans Scholl und Alexander Schmorell, die den Widerstand gestartet und geführt und geleitet haben.
"Sie hat sich in Gottes Hände begeben"
Kupferberg: Sie haben unglaublich viel Material für Ihr Buch gesichtet, davon zeugt der umfangreiche Anhang mit Quellenverweisen, darunter Briefe, diverse Aufzeichnungen Sophie Scholls und ihrer Freunde und Freundinnen und die Prozess- und Verhörakten der Gestapo. Wie haben Sie sich dem Menschen Sophie Scholl durch all dies genähert, und was wollten Sie genau herausfinden?
Zoske: Es gibt ja sehr viele persönliche Briefe und Tagebucheinträge, die von Sophie Scholl ja nicht dafür gedacht waren, ein bestimmtes Bild von sich selber zu malen, sondern die sehr privat sind. Wenn man dann erst mal die Scheu überwindet, in den privaten Briefen und Aufzeichnungen zu lesen, entfaltet sich die Persönlichkeit von Sophie Scholl doch als eine komplexe, zuweilen sehr komplizierte, und trotzdem bleibt sie bei allen Schwächen und Fehlern, bei aller Menschlichkeit ein Vorbild auch heute noch, und das hat mich fasziniert. Mich hat es schon fasziniert bei Hans Scholl, aber auch bei Sophie Scholl, wie passt das zusammen, ihr tiefer Glaube, ihr tiefer christlicher Glaube, und ihr Widerstandshandeln – gibt es da eine Verbindung oder ist das nur marginal. Da ist, denke ich, ganz deutlich geworden, dass der christliche Glaube für sie existenziell war und auch essenziell für den Widerstand.
Kupferberg: Wir lesen sehr viel über ihr Hadern mit dem Glauben, aber auch über die Intensität ihrer Gläubigkeit, wie sehr ihr das auch Kraft gegeben hat, welche Fragen sie sozusagen immer wieder ausgehandelt hat mit der Religion über den Glauben. Das Todesurteil gegen Sophie Scholl wurde im Februar 1943 vollstreckt, Sophie Scholl war zu diesem Punkt 21 Jahre alt. Die Verhörprotokolle, die lesen sich erstaunlich ruhig und bedächtig, überhaupt hat Sophie Scholl ihr Todesurteil mit Ruhe und relativer Gelassenheit entgegengenommen. Wie kann man sich denn das erklären? Hat das auch was mit ihrem tiefen Glauben zu tun?
Zoske: Sie war davon total überzeugt, dass sie das hat tun müssen, was sie getan hat, dass sie die Flugblätter verteilen musste. In dem Verhör wird am Anfang – am Anfang leugnet sie, das ist verständlich –, als es dann deutlich wird, dass sie überführt werden wird, wird aus dem Geständnis ein Bekenntnis. Dann will sie sich zu dem bekennen, was sie gemacht haben, und sie übernimmt auch nicht den Vorschlag des verhörenden Beamten, sie möge doch sagen, sie als Mädchen sei verführt worden. Da ist sie wirklich emanzipiert und mutig und sagt: Ich bleibe bei meiner Meinung und ich habe das Beste getan, was ich für mein Volk habe tun können, ich stehe hinter dem, was ich getan habe. Ich denke, sie hat auch das so verstanden, sie hat das gemacht, was Gott von ihr wollte. Da hat sie ja gerungen vorher: Ist es das Richtige, was ich machen soll, soll ich springen oder soll ich lieber nicht springen? Und dann hat sie sich vertraut – so schreibt sie ja selber – in Gottes Hände begeben.
"Freiwillig und mit relativer Begeisterung beim BDM"
Kupferberg: Sophie Scholl, die kam aus einem gutbürgerlichen Haushalt, kann man sagen, einer gutbürgerlichen Familie, der Vater Steuerberater und zwischendurch Bürgermeister seiner Gemeinde in Baden-Württemberg, die Mutter Krankenschwester, tiefgläubig, ein nicht unbedingt politisch progressives Haus, auch nicht komplett ablehnend der NS-Ideologie gegenüber. Sie schildern all dies in Ihrem Buch – was konnten Sie denn über den Menschen, den Charakter, die Persönlichkeit Sophie Scholls herausfinden?
Zoske: Sophie Scholl schreibt einmal selber an ihren Freund Fritz Hartnagel: Von Politik verstehe ich nicht viel, will ich auch gar nicht verstehen, aber ich weiß zu unterscheiden zwischen Recht und Unrecht. Das war ganz stark ein Maßstab für sie, und sie hat sich das angeguckt, was im Nationalsozialismus lief, und je länger der Nationalsozialismus an der Macht war, desto mehr widerstieß er gegen das, was Sophie für Recht hielt, und entpuppte sich als Unrechtsstaat. Diese Maßstäbe hat sie schon von zu Hause mitbekommen, was ist Recht und was ist Unrecht, und wenn ich etwas als Unrecht empfinde, muss ich etwas dagegen machen.
Sie hat lange doch stillgehalten, weit über ihre Zeit beim Bund deutscher Mädel hinaus. Sie hätte 1938 aussteigen können, aber 1941 war sie noch freiwillig und mit relativer Begeisterung beim BDM. Und da hat es dann doch mit dem Krieg langsam begonnen, kritisch zu werden für sie. Bis zu dem Punkt, wo sie dann gesagt hat, ich will den Staat abschaffen, ich will Hitler beseitigen, hat es doch sehr lange noch gedauert. Sie war keineswegs lange schon vor ihrem Attentat oder dem Versuch, Hitler zu stürzen, gegen Hitler, das ist erst so 1941/42 geschehen – auch so ein Mythos, der immer noch weitererzählt wird, weil Inge Scholl ihn 1952 in die Welt gesetzt hat.
Ihre Bedeutung für die Weiße Rose
Kupferberg: Was war denn dafür ausschlaggebend, wann kam dieser Turn und warum?
Zoske: Der einzelne Punkt ist nicht genau zu benennen. Man kann nicht sagen, an dem Datum war sie noch für Hitler und danach gegen Hitler, so etwas braucht auch Zeit. Als junges Mädchen oder überhaupt als Mensch kann man doch nicht von heute auf morgen sagen: Gestern bin ich noch begeistert marschiert und heute stehe ich auf und würde Hitler niederschießen – so hat sie gesagt –, wenn ich eine Pistole hätte. Das bedarf einer Entwicklungszeit.
Sicherlich stark dazu beigetragen hat ihre Zeit im Kriegshilfsdienst in einer kleinen badischen Stadt in Süddeutschland, in Blumberg, wo sie ein halbes Jahr lang arbeiten musste, von Herbst 1941 bis Frühjahr 1942. Dieses Dorf wurde von den Nazis aus einem Bauerndorf aufgebaut zu einer Erzförderstadt, von 800 Einwohnern auf 6000 hochgepuscht von Menschen, die da vielleicht auch gar nicht arbeiten wollten, die zwangsweise dort waren. Dieser Ort wurde dann eingestampft, weil die Nazis dann im Elsass und in der Ukraine günstiger und effizienter Erz fördern konnten. Sophie musste dort als Kindergärtnerin arbeiten, und sie hat die Arbeitslosigkeit wahrgenommen, und sie hat wahrgenommen, dass die Nazis die Natur, die Sophie über alles liebte, zerstörten. Und dort wurde ihr schon klar, das kann nicht die Wirtschaftspolitik sein, diese Autarkiepolitik, diese Kriegspolitik, die die Nazis dort betreiben.
Sechs oder acht Wochen nach Beendigung ihres Kriegshilfsdienstes besorgt sie sich von ihrem Freund tausend Reichsmark für einen guten Zweck, wie sie sagt, und erbittet von ihm einen Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat. Fritz hat nach dem Krieg geschrieben, das sei wohl im Mai 1942 gewesen. Das wäre dann ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie mit Hans im Frühjahr – im Mai, im Juni – sich überlegt hat, wir müssen etwas gegen Hitler machen, lass uns doch Flugblätter drucken. Sie war dann bei der ersten Flugblattaktion von Hans Scholl und Alexander Schmorell im Juli nicht dabei, das haben die zwei ohne sie gemacht – mit einem ganz einfachen Vervielfältigungsapparat –, aber dann im Herbst war sie entscheidend dabei, den Widerstand zu fördern. Hans Scholl ist derjenige, der die Weiße Rose ins Leben gerufen hat, ohne Hans Scholl hätte es die Weiße Rose nicht gegeben, aber ohne Sophie Scholl hätte es den zweiten Teil der Weißen Rose, den zweiten Teil der Widerstandsaktion so in seiner Intensität, in seiner Größenordnung qualitativ und quantitativ nicht gegeben.
"In der DDR wurde die Weiße Rose schneller verehrt"
Kupferberg: Das letzte Wort, das Sophie und auch Hans Scholl vor ihrer Hinrichtung von sich gegeben haben, war "Freiheit", und das Urteil, das wurde ja nur ganz schnell nach der Verkündung vollstreckt. Ursprünglich sollte es eine öffentliche Hinrichtung werden, man entschied sich dagegen. Warum?
Zoske: Der amtierende Gauleiter Giesler in München meinte wohl, eine Show abziehen zu können, aber er hat sich dann darin doch getäuscht, dass viele in München offensichtlich dann bei so jungen Leuten, bei einem so schnell vollzogenen Urteil, das vielleicht nicht so goutieren würden, wie er sich das gedacht hat. Er wird Stimmen eingesammelt haben, und dann dachte er wohl, das machen wir dann lieber ganz schnell und richten die drei dann hin – Christoph Probst ist ja mit den beiden hingerichtet worden. Die Gestapo hat sich umgehört, wie denn dieses Urteil aufgenommen wurde, und es gab doch offensichtlich Gegenstimmen, die gesagt haben: Wie kann man so was so schnell machen, das sind doch so junge Leute gewesen? Ich habe auch noch eine Zeitzeugin gesprochen, die damals acht Jahre alt war und die zumindest zu Hause mitbekommen hat, wie entsetzt die Eltern waren, als sie sahen, dass 20, 21, 22 Jahre alte junge Menschen hingerichtet wurden.
Kupferberg: Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz auf die Ost- und West-Interpretation oder der Erzählung über die Weiße Rose zu sprechen kommen. Wie unterscheiden sich da die Narrative?
Zoske: Im östlichen Teil der DDR wurde die Weiße Rose wesentlich schneller verehrt als im westlichen Teil, und man entdeckte tatsächlich Hans und Sophie Scholl und die anderen dann als Vorbilder für den antifaschistischen Kampf, als sozialistische Antifaschisten. Man malte dieses Bild aus, ganz früh auch, indem man Briefmarken drucken ließ. Im Westen war es wesentlich zögerlicher. Da muss man ja auch sagen, dass im Westen alte ehemalige Nazis wesentlich leichter Karriere gemacht haben als im Osten, wo man zumindest versucht hat, sie nicht an Schaltstellen zu setzen, im Westen geschah das viel schneller und viel skrupulöser, und da war die Weiße Rose alles, nur eines nicht: keine Vorbilder.
Sie waren nicht Vorbilder, weil man dachte, so ähnlich wie die von 1944, wie Stauffenberg, eher waren sie doch Vaterlandsverräter. Aber die Arbeit von Inge Scholl, begonnen mit ihrem Buch 1952 "Die Weiße Rose" hat allmählich dazu geführt, dass auch die Weiße Rose doch als ein demokratisches Erbe dann verstanden wurden, nur waren sie natürlich dann keine antifaschistischen Sozialisten wie in der DDR, weil man im Westen auch Angst hatte vor einem Kommunismus stalinistischer Prägung. Dann waren sie Vorbilder für Demokratie.
Sie waren nicht Vorbilder, weil man dachte, so ähnlich wie die von 1944, wie Stauffenberg, eher waren sie doch Vaterlandsverräter. Aber die Arbeit von Inge Scholl, begonnen mit ihrem Buch 1952 "Die Weiße Rose" hat allmählich dazu geführt, dass auch die Weiße Rose doch als ein demokratisches Erbe dann verstanden wurden, nur waren sie natürlich dann keine antifaschistischen Sozialisten wie in der DDR, weil man im Westen auch Angst hatte vor einem Kommunismus stalinistischer Prägung. Dann waren sie Vorbilder für Demokratie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.