Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa
C.H. Beck Verlag 2017
493 S., € 24.95
Verrät Europa seine Werte?
"Die EU der 27 kann heute kaum noch behaupten, eine Wertegemeinschaft zu sein", sagt der Historiker Heinrich August Winkler. Und das nicht wegen der Flüchtlingsfrage, sondern wegen der Haltung Polens und Ungarns zu Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung.
Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie: Das sind für den Historiker Heinrich August Winkler die westlichen Werte - "das, was man das normative Projekt des Westens nennen könnte", sagte Winkler im Deutschlandfunk Kultur.
Doch dieses normative Projekt erodiert zusehends, auch innerhalb der EU, wie Winkler am Beispiel Polens und Ungarns erklärt:
"Die EU der 27 kann heute kaum noch behaupten, eine Wertegemeinschaft zu sein, und das liegt nicht nur an den Meinungsverschiedenheiten in der Migrations- und Flüchtlingsfrage, sondern daran, dass zwei Mitgliedsstaaten, nämlich Ungarn und Polen, sich stolz als illiberale Demokratien bezeichnen, die die Grundregeln des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung zunehmend außer Kraft setzen."
Heilsamer Trump-Schock?
Zwei Ereignisse, die Winkler als "Triumphe des Nationalpopulismus" bezeichnet, hätten Europa in einen Schock versetzt: das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Zugleich habe dadurch ein Lernprozess eingesetzt, was sich an der Wahl Alexander von Bellens oder der Wahl Emanuel Macrons zum französischen Präsidenten gezeigt habe.
Winkler hofft, dass Deutschland und Frankreich jetzt enger zusammenarbeiten:
"Dann haben sie durchaus die Chance, ein Gegengewicht zu bilden zu den populistischen Kräften auch in den USA."
Lesen Sie hier Auszüge aus dem Gespräch:
Nicole Dittmer: Herr Winkler, kann man die Frage heute überhaupt so einfach beantworten: Was sind die europäische Werte, in einem Europa, das derzeit immer weiter auseinander driftet?
Winkler: Zunächst einmal ist die Frage, ob wir überhaupt von europäischen oder nicht viel mehr von westlichen Werten reden müssen. Europa im geografischen Sinne war nie eine Wertegemeinschaft. Da gab es die alte historische Grenze zwischen dem Europa der Westkirche im lateinischen Europa, dem Okzident, und dem orthodox-byzantinisch geprägten östlichen, südöstlichen Europa. Und nur in dem westlichen Europa, im okzidentalen Europa hat sich jene Tradition der Gewaltenteilung schon im Mittelalter herausgebildet, aus der unsere Freiheitsidee erwachsen ist.
Die ursprüngliche Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, und dann von fürstlicher und ständlicher Gewalt war die Voraussetzung für die Freiheitstradition, die dann in den Menschenrechten des späten 18. Jahrhunderts gipfelt, und die wurden zuerst auf nordamerikanischen Kolonialboden erklärt, in Virginia, ganz kurz vor der Unabhängigkeitserklärung.
Mit anderen Worten: Die Werte, auf die wir uns heute beziehen, sind transatlantische, sind westliche Werte. Auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die damals verabschiedete Menschenrechtserklärung der Einzelstaaten folgte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung 1789.
Das ist das, was man das normative Projekt des Westens, die westlichen Werte nennen könnte: Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie.
(...)
Hatting: Der Türkei widmen Sie in Ihrem Buch ein ganzes Kapitel, gerade auch dem schwierigen Verhältnis Türkei Europäische Union. Nun sind Sie Historiker, sind kein Politiker, das ist schon klar, trotzdem würde mich jetzt interessieren: Was würden Si denn empfehlen, wie man mit der Türkei jetzt umgehen soll?
(...)
Winkler: Die Beitrittsverhandlungen müssen nicht von uns abrupt abgebrochen werden, damit würden wir vermutlich Erdogan nur einen Gefallen tun, aber sie sollten suspendiert werden. Wir müssen der Türkei auf allen Ebenen deutlich machen: So geht es nicht! Die Entwicklung der Türkei ist absolut unvereinbar mit dem, was Voraussetzung einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist, und da müssen wir deutlich werden und dürfen auch in Sachen Wirtschaftshilfen nicht davon absehen, wie krass die Türkei mit ihrem jetzigen Kurs den europäischen Kriterien widerspricht.
Hatting: Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs die USA erwähnt und gezeigt, dass auch die für unsere westlichen Werte ganz entscheidend gewesen ist, nämlich mit ihrer Verfassung. Nun haben wir zurzeit in den USA einen Präsidenten mit dem Namen Donald Trump. Es ist noch nicht so lange her, Herr Winkler, da haben Sie Trump als eine Episode bezeichnet, die wir auch irgendwie überstehen würden. Sie waren überzeugt, dass Amerikas Geist Trump besiegen würde. Jetzt, in Ihrem Buch, hatte ich den Eindruck, klingen Sie ein bisschen ernüchtert. Haben Sie Trump falsch eingeschätzt?
Winkler: Nein, die Formulierung der Episode war immer der Hinweis auf eine Chance, die Chance, dass die amerikanische Zivilgesellschaft, dass die unabhängigen Gerichte, die freiheitlichen Traditionen stark genug sein würden, um eine Umwandlung der USA in eine präsidiale autoritäre Herrschaft zu blockieren.
Da ist, glaub ich, nichts zu revidieren, wir müssen feststellen: Die unabhängigen Gerichte funktionieren, die Zivilgesellschaft ist höchst aktiv, im Kongress gibt es nicht wie zu erwarten nur den Widerstand der oppositionellen Demokraten, sondern eben auch zunehmend von Republikanern, die ihre Wiederwahlchancen gefährdet sehen. Es gibt ja auch noch ein paar wenige liberale Republikaner, die genau wissen, wie sich diese Partei weiterentwickeln würde, wenn sie das mitmacht, was wir gerade in den letzten Wochen unter Trump erlebt haben: Provokationen der elementarsten Empfindungen für Rechtsstaatlichkeit.
Dittmer: Sie haben jetzt oft das Wort Chance erwähnt. Ist Donald Trump auch eine Chance für Europa, enger zusammenzuwachsen?
Winkler: Es gab im letzten Jahr zwei Triumphe des Nationalpopulismus: Der erste war das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich, der zweite Triumph war die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Beide Ereignisse haben einen Schock in Europa ausgelöst und möglicherweise gewisse Lernprozesse: Da war z.B. die überaschend hohe Unterstützung für den anti-populistischen Bewerber van der Bellen bei den österreichischen Bundespräsidentenwahlen im Dezember letzten Jahres, sein Sieg über den Nationalpopulisten Hofer, die relative Niederlage des Geert Wilders bei den niederländischen Parlamentswahlen im März (...)
Und da war vor allem entscheidend für Europa die französische Präsidentenwahl, wo das Duell zwischen Marine LePen und Emmanuel Macron zugunsten des Reformers Macron ausging und das ist in der Tat eine Chance, eine Chance vor allem für eine intensivere deutsch-französische Zusammenarbeit als es sie in den letzten fünf Jahren gegeben hat.
Und wenn Deutschland und Frankreich enger zusammenarbeiten innerhalb der Währungsunion und wie in der EU insgesamt, dann haben sie durchaus die Chance, ein Gegengewicht zu bilden zu den populistischen Kräften auch in den USA.
Hatting: Glauben Sie, dass diese Chance auch genutzt werden wird auf absehbare Zeit bei dem großen Problem Flüchtlinge? Hier gibt es ja keine Solidarität innerhalb der europäischen Union, wir brauchen uns ja nur die Visegrad-Staaten anzuschauen, die sich ja weigern, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen. Was heißt das eigentlich für das Projekt europäische Union?
Winkler: Die EU der 27 kann heute kaum noch behaupten, eine Wertegemeinschaft zu sein, und das liegt nicht nur an den Meinungsverschiedenheiten in der Migrations- und Flüchtlingsfrage, sondern daran, dass zwei Mitgliedsstaaten, die sogar noch zum alten Okzident gehören, nämlich Ungarn und Polen, sich stolz als illiberale Demokratien bezeichnen, die die Grundregeln des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung zunehmend außer Kraft setzen.
Damit kann sich die EU nicht abfinden, aber die einzig wirksame Sanktion – der Entzug des Stimmrechts – scheitert daran, dass ein solcher Beschluss im europäischen Rat einstimmig befasst werden muss und Ungarn bereits angekündigt hat: Wir stützen im Zweifelsfall Polen.
Was die Flüchtlingsfrage angeht: Da hat die deutsche Politik 2015 einen großen Fehler gemacht: Nicht die Entscheidung, die Grenzen offen zu halten für die in Ungarn fest sitzenden Flüchtlinge war der Fehler, das war richtig und humanitär völlig gerechtfertigt, ein Fehler war die fehlende Abstimmung mit den anderen Staaten der EU und der europäischen Union selbst, auch die fehlende Befristung.