Der Großvater als Kompass
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In der DDR war sie freie Journalistin, seit der Wende forscht und schreibt Annette Leo über historische Stoffe. Ihr jüngstes Buch widmete sie dem Schicksal der Sinti in der NS-Zeit. Und auch die Geschichte ihrer eigenen Familie lässt sie nicht los.
Mit dem Gefühl, dass ihre Familie zu den Guten zählt, wuchs Annette Leo in Ostberlin auf. Denn wer unter den Nationalsozialisten gelitten hatte, gehörte zu den Antifaschisten und befand sich damit auf der richtigen Seite der Geschichte.
Ihre Eltern hatten als sogenannte "Mischlinge ersten Grades" den Krieg überlebt. Das Judentum spielte in der Familie allerdings keine große Rolle. "Jüdisch sein war etwas, das in der Vergangenheit stattfand − und ich hatte eine kindliche Vorstellung davon, dass man erst Jude ist und dann Kommunist", erzählte Leo im Deutschlandfunk Kultur.
Der Vater wurde gefoltert
Der Vater hatte sich im französischen Exil am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt und war im Gefängnis gefoltert worden. "Ich kann mich erinnern, dass ich ihn morgens beim Zähne putzen gefragt habe, wenn er das Gebiss rausnahm: Was ist denn mit Deinen Zähnen? Wo sind die denn? Und dass er die ganz schnell wieder eingesetzt hat und gesagt hat: Wieso, die sind doch da, meine Zähne. Und das ist dann für ein Kind das Signal: Frag' nicht."
Ihre Eltern seien zwar kritisch, aber immer auch loyal gegenüber dem Staat gewesen, so Annette Leo: "Denn die DDR war für sie der Zufluchtsort vor dem Faschismus. Die waren beide geprägt durch die Verfolgungen."
"Von Karlshorst aus die Welt verändern"
Die heute 70-Jährige gehört zu einer anderen Generation. Sie war zwar Mitglied der SED, aber als die Journalistin bei der Berliner Zeitung feststellte, wie ideologisch es dort zuging, entschied sie sich dafür, frei weiter zu arbeiten. Im Herbst 1989 engagierte sie sich beim Neuen Forum: "Wir wollten von Karlshorst aus die Welt verändern."
Nach der Wende verlegte die zweifache Mutter dann ihren Schwerpunkt auf die Arbeit als Historikerin und machte in der Gedenkstättenarbeit bald ihre ersten Erfahrungen mit Kollegen aus dem Westen: "Ich konnte das überhaupt nicht teilen, was viele von meinen Landsleute aus der DDR sagten: 'Mit den Wessis kommt man nicht so richtig klar' oder 'Die sind so kalt oder so rational'." Die Zusammenarbeit mit den westdeutschen Historikern habe von Anfang an auf Augenhöhe stattgefunden: "Ich habe sehr viel dabei gelernt."
Leo forschte nicht nur über Antifaschismus und Antisemitismus, sondern auch über Frauen in der DDR, und sie schrieb eine viel beachtete Biografie über Erwin Strittmatter. Ihr jüngstes Buch widmet sich der Geschichte des Sinti-Jungen Willy Blum, der einen jüdischen Jungen rettete und in Auschwitz ermordet wurde.
Annette Leo sucht aber auch immer wieder nach den historischen Spuren ihrer eigenen Familie, denn für sie ist "Familie ein Fundus der Geschichte".
Die Faschismuskeule wirkte auch bei ihr
Besonders widmet sie sich dem Großvater mütterlicherseits, Dagobert Glubinski. Der wurde in den 20er-Jahren aus der KPD geworfen, weil er sich für die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten eingesetzt hatte. Das hat der Enkeltochter imponiert:
"Wenn du auf die andere Seite gerätst, dann bist du schon quasi beim Faschismus. Und diese Keule hat natürlich bei mir auch gewirkt. Ich wollte nicht auf die falsche Seite geraten, und dieser Großvater, der war wie ein Kompass. Man kann kritisch sein, und wenn die mir erzählen, dass das feindlich ist, dann stimmt das einfach nicht."