Historikerin: Srebrenica wirkt bis heute sehr stark nach

Marie-Janine Calic im Gespräch mit André Hatting |
17 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica sind nach Einschätzung der Historikerin Marie-Janine Calic noch immer viele Angehörigen traumatisiert. "Solange die Verbrechen nicht ganz aufgearbeitet sind, ist Normalisierung und Versöhnung kaum möglich", sagt Calic.
André Hatting: Heute ist der 11. Juli, Gedenktag für die Opfer des schwersten Kriegsverbrechens seit dem Zweiten Weltkrieg: der Völkermord in der bosnischen Stadt Srebrenica 1995. Truppen der bosnischen Serben töteten rund 8000 muslimische Jungen und Männer. Kommandant war damals General Ratko Mladic, er steht seit Mai vor dem UN-Tribunal in Den Haag. Am Telefon begrüße ich Marie-Janine Calic, sie ist Dekanin der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität München, Forschungsschwerpunkt Konflikt- und Sozialgeschichte Südosteuropas. Guten Morgen, Frau Calic.

Marie-Janine Calic: Guten Morgen!

Hatting: Welche Bedeutung hat der Völkermord von Srebrenica noch für die Region?

Calic: Das Ereignis wirkt überall in der Region bis heute sehr stark nach, denn die Erlebnisgeneration ist ja noch am Leben, und die Angehörigen, aber auch die Gesellschaften insgesamt sind schwer traumatisiert, und solange die Verbrechen nicht ganz aufgearbeitet sind, ist Normalisierung und Versöhnung kaum möglich. Das gilt für Bosnien, das gilt aber auch für die Nachbarstaaten.

Leider ist es aber auch so, dass Srebrenica als Chiffre in der politischen Debatte zitiert wird, um für politische Ziele zu werben, oder Legitimität in Frage zu stellen – zum Beispiel in der Frage der Reform des Bosnien-Verfassungsvertrages. Hier wird immer argumentiert, dass die serbische Entität auf ethnische Säuberungen und Völkermord gebaut ist und deshalb abgeschafft werden muss, und diese Art von Diskursen tragen leider nicht zur Normalisierung bei.

Hatting: Was genau bedeutet das, wenn gefordert wird, die serbische Entität solle abgeschafft werden?

Calic: Das bedeutet, dass der bosnische Staat stärker zentralisiert werden soll. Im Moment besteht er ja aus zwei föderalen Einheiten, und die Bestrebungen auf Seiten eines Teils der muslimischen politischen Klasse gehen in die Richtung, mehr Gewalten an Sarajevo, also die Hauptstadt zu transferieren und den Entitäten die Befugnisse einzuschränken beziehungsweise ganz zu nehmen.

Hatting: Würde das auch bedeuten: weniger Schutz für die serbische Minderheit?

Calic: Das würde es nicht zwangsläufig bedeuten. Das würde allerdings bedeuten aus serbischer Sicht, dass ein wesentliches Kriegsziel nicht erfüllt wurde, denn die Serben haben in dem Krieg für ihren eigenen bosnisch-serbischen Staat gekämpft, auch unter massiver Verübung von Kriegsverbrechen, das haben sie dann erreicht. Deswegen ist es ganz unwahrscheinlich, dass sie freiwillig von diesem Ziel, also dem eigenen serbischen Staat innerhalb Bosniens, abrücken würden.

Hatting: Sie haben, Frau Calic, schon von der Bedeutung der Aufarbeitung dieser Verbrechen gesprochen. Bislang sind sieben Angeklagte im Srebrenica-Prozess verurteilt worden, die Verfahren haben sich lange hingezogen, über Jahre, und der Prozess gegen Mladic, der zieht sich auch hin. Die Hinterbliebenen, die wollen aber ein schnelles Urteil. Ist das realistisch?

Calic: Das ist zum einen verständlich, und das ist auch durchaus realistisch. Wir müssen diese Forderungen vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen sehen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Prozesses gegen Slobodan Milosevic. Der Prozess gegen diese Hauptangeklagten war in vielen Anklagepunkten sehr stark aufgebläht, hat sich dann so lange hingezogen, bis der Angeklagte verstarb, nämlich Milosevic, und der konnte dann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Das hat natürlich immense Frustrationen ausgelöst.

Allerdings hat es auch zu einem Sinneswandel auf Seiten der Anklagebehörde geführt. Im Fall von Mladic will sich die Anklagebehörde jetzt auf sechs zentrale Punkte konzentrieren, also nur noch die sechs schwersten Verbrechen ihm vorwerfen. Darunter befindet sich der Völkermord in Srebrenica.

Hatting: Und am Montag hat die Beweisaufnahme begonnen mit der Vernehmung eines ersten Zeugen. Heute wie gesagt die Gedenkfeier an das Massaker in Srebrenica, daran wollen 30.000 Muslime teilnehmen. Welche Rolle spielt das Ereignis eigentlich im Nachbarland Serbien?

Calic: Vor einigen Jahren ist ja ein schockierendes Video von dem Verbrechen in Den Haag zum ersten Mal gezeigt worden. Das zeigt die Erschießung von wehrlosen muslimischen Männern durch serbische paramilitärische Einheiten. Dieses Video ist auch in Serbien im Fernsehen gelaufen – wochenlang. Heute ist eigentlich niemand mehr, der davon noch nicht gehört hat und ernsten Gewissens behaupten könnte, dass dieses Ereignis nicht stattgefunden hat.

Aber es gibt viele Menschen, die Srebrenica und die Verantwortung Serbiens für diese Kriegsverbrechen im Nachbarstaat Bosnien auf jeden Fall verdrängen. Viele Serben sehen die serbische Nation als Opfer des Krieges, betrachten den Westen als einseitig, sehen Den Haag als politisches Instrument zur einseitigen Abstrafung der Serben. Aber es gibt auch einen Wandel in der Rechtskultur und im Rechtsverständnis, denn im Jahre 2007, also immerhin schon vor fünf Jahren, hat die serbische Anklagebehörde, also die nationale Jurisdiktion, vier Mitglieder der Sondereinheiten "Skorpione", die an den Massakern in Srebrenica beteiligt waren, zu sehr langjährigen Haftstrafen verurteilt, und das zeigt, dass es doch in Serbien auch ein verändertes Verständnis dafür gibt, von offizieller Seite mit dieser Vergangenheit umzugehen.

Hatting: Könnte dieses Verständnis, Frau Calic, jetzt aber wieder bröckeln beziehungsweise sich abschwächen? Wir haben nämlich seit Mai einen neuen Präsidenten, der heißt Nikolic, und der hat noch bis vor Kurzem betont, dass weder Karadzic noch Mladic Verbrecher seien, und bis heute will er das Kosovo nicht anerkennen, und vor zwei Wochen machte er den früheren Vertrauten ausgerechnet von Slobodan Milosevic zum Regierungschef. Sind in Belgrad also wieder die politischen Kräfte der 90er-Jahre an der Macht?

Calic: Ja, es gibt ganz eindeutige Rückschritte. Das sieht man an der Rhetorik des neuen Präsidenten und auch an den Themen, die er aufgreift und die er im Wahlkampf aufgebracht hat. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass Nikolic nicht wegen seiner Haltung zu Krieg und Kriegsverbrechen gewählt wurde. Er hat vor allem Protestwähler mobilisiert, also die sozial Schwachen und ökonomisch Deklassierten. Seit dem Beginn der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 sind fast eine halbe Million Menschen ohne Arbeit geblieben. Das heißt, die Arbeitslosigkeit, die soziale Unsicherheit und die Ängste sind immens. Das macht die Menschen anfällig für Populismus, für nationale Parolen.

Aber das heißt noch lange nicht, dass all diese Menschen auch sich der Kriegsvergangenheit nicht stellen wollen. Es gab eine sehr geringe Wahlbeteiligung in Serbien. Dem vorherigen Präsidenten Tadic, der sehr europäisch ausgerichtet war, dem ist es offensichtlich nicht gelungen, sein Wählerpotenzial zu mobilisieren. Also, das Spektrum der Linken und Liberalen ist einfach nicht an den Wahlurnen erschienen. Ansonsten muss man sagen, ein großer Teil der politischen Klasse in Serbien ist pro-europäisch eingestellt, und ich denke, das wird sich auch langfristig durchsetzen.

Hatting: Serbien ist ja auch EU-Beitrittskandidat. Wenn man sich andere EU-Mitglieder anschaut, zum Beispiel Ungarn mit dem Nationalisten Orban an der Macht, oder Rumänien, wo der Präsident in einer Art Staatsstreich abgesetzt worden ist, wo steht da Serbien mit einem ehemaligen Kriegstreiber an der Spitze?

Calic: Na ja, Serbien hat den Status eines Beitrittskandidaten inne. Das zeigt, dass es schon mal wesentliche Bedingungen der EU bereits erfüllt hat, denn diesen Status gibt es nicht umsonst. Es gibt auf der anderen Seite aber auch keinen Automatismus für den Beitritt. Also die Europäische Union hat bestimmte Kriterien aufgestellt, die sogenannte Konditionalität, die erfüllt werden muss, um den Beitrittsprozess fortzusetzen, und zu diesen Kriterien gehört die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen, die Demokratisierung, wirtschaftliche Reformen und Rechtsstaatlichkeit, und ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die Europäische Union diese Konditionalität weiterhin sehr konsequent durchsetzt, aber gleichzeitig auch zeigt, dass es keinen Weg zurück gibt. Wandel ist nur durch Annäherung möglich und nicht durch Isolation.

Hatting: Marie-Janine Calic, Dekanin der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität München. Ich bedanke mich für das Gespräch, Frau Calic.

Calic: Ja, sehr gerne.


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