Historikerin über die Leistungsgesellschaft

"Die Abiturnote ist ausgesprochen mächtig"

Abiturientinnen des Mariengymnasiums Kaufbeuren
Schüler müssen Leistung zeigen, die dann benotet wird. Dabei gehe es oft ungerecht zu, sagt Nina Verheyen: Der eine hat viel Unterstützung durch die Eltern, der andere weniger. © dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Nina Verheyen im Gespräch mit Ute Welty |
Wettbewerb, Arbeitsverdichtung, Stress: Die Leistungsgesellschaft ist allgegenwärtig. Wie sie entstanden ist, zeigt die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch "Die Erfindung der Leistung". Sie plädiert dafür, sensibler mit dieser Kategorie umzugehen.
Ute Welty: Ich habe nicht viel aus dem Physikunterricht behalten, zugegeben, aber diese Formel hat sich eingeprägt: Leistung ist Arbeit pro Zeiteinheit. Dabei ist der Begriff der Leistungsgesellschaft allgegenwärtig – nicht zuletzt verbunden mit der Forderung, dass sich Leistung wieder lohnen muss. Aber womöglich befinden wir uns damit auf einem Irrweg, womöglich ist Leistung gar keine objektive und individuelle Größe.
Die Kölner Historikerin Nina Verheyen hat dazu recherchiert und die Ergebnisse ihrer Untersuchung in einem Buch zusammengefasst: "Die Erfindung der Leistung". Guten Morgen, Frau Verheyen!
Nina Verheyen: Schönen guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Dieser Ihr Titel zwingt mich gerade dazu, als Erstes mit den Schweizern zu fragen, wer's denn erfunden hat – nicht das Hustenbonbon, sondern die Leistung.
Verheyen: Da kann man natürlich keine konkrete Person nennen, darum geht's gerade nicht, sondern dieser Titel spielt einerseits auf eine historische Tendenz an, also sozusagen die zunehmende Verfestigung dieses Gedankens individueller Leistung, die uns in der Gegenwart so sehr umtreibt – daran sind ganz viele Menschen beteiligt gewesen. Und andererseits spielt der Titel auch auf unseren Alltag an und die Art und Weise, wie wir sozusagen immer wieder Leistung neu definieren, alle gemeinsam, wie wir immer neu feststellen, was uns als Leistung gelten soll.

In der Antike gab es keinen Weltrekord

Welty: Aber ist nicht die Leistung und die Bereitschaft, etwas zu leisten, eine Ureigenschaft des Menschen?
Verheyen: Ja, also das könnte man auf den ersten Blick vielleicht meinen. Vielleicht denkt man da an Kinder auf dem Spielplatz, die um die Wette laufen und der eine ruft begeistert, Erster, aber es ist ein sehr weiter Weg von dieser Spielplatzszene hin zu der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft kontinuierlich um Leistung kreist und hin zu diesem sehr spezifischen Konzept von individueller Leistung, das dabei zum Tragen kommt.
Ich will das kurz verdeutlichen: Die Kinder wissen also, wer ganz konkret von ihnen schneller gelaufen ist, so wie vielleicht Schüler wissen, wer auf eine konkrete Lehrerfrage als Erster die beste Antwort gegeben hat, und das wussten dann auch schon die Schüler des Mittelalters und der Antike. Aber heutige Schüler wissen ja eben viel mehr. Die entwickeln im Verlauf ihrer Schulzeit eine Vorstellung ihrer Leistung im Sinne einer objektiven Größe, die über ihre kognitiven Fähigkeiten und die Möglichkeit, diese abzurufen, Auskunft gibt und die dann am Ende als Zahl im Zeugnis prangt.
Die Abiturnote beispielsweise hat ja eine Präzision, die bis hinter das Komma reicht, und die ist ausgesprochen mächtig, Stichwort Numerus clausus, die entscheidet dann also darüber, wie sich Berufs- und Bildungswege weiterentwickeln.
Welty: Aber was genau hat sich denn da verändert und inwieweit hat das eben auch, vom Sport beispielsweise, andere Bereiche der Gesellschaft verändert?
Verheyen: Der Wandel bezieht sich zum einen auf die Frage, wie viele Menschen sie gewissermaßen miteinander vergleichen, eben nur die beiden konkret anwesenden auf dem Spielplatz oder ob sie auf der Grundlage so einer Abiturnote im Grunde genommen einen deutschlandweiten Vergleich anstreben und suggerieren. Dieser sei objektiv möglich. Und ähnlich ist das eben auch im Sport.
Also einzelne sportliche Fähigkeiten wurden schon immer gemessen, den sportlichen Wettkampf gab es auch schon in der Antike – als die Olympischen Spiele 1896 gegründet werden, spricht man von einer Wiederbegründung, weil es sie eben schon in der Antike gab. Aber in der Antike hat man noch nicht gefragt, wie schnell jemand exakt gelaufen ist, man hat noch nicht gefragt, diese Zahlen dann gewissermaßen mit den Zahlen von anderen Sportarten in anderen Wettbewerben zu vergleichen, um zu so etwas wie einem Weltrekord etwa zu kommen. Also man hat noch nicht abstrahiert von der ganz konkreten Wettbewerbssituation.
Welty: Wann hat das begonnen, dieser Abstraktion?
Verheyen: Das setzt sich eben ganz maßgeblich im 19. Jahrhundert durch, und ich würde sagen, diese Jahre im späten 19. Jahrhundert, in dem dann auch die modernen Olympischen Spiele entstehen. In dieser Zeit radikalisiert sich dieses Bestreben noch mal ganz deutlich. In dieser Zeit etablieren sich eben auch die standardisierten Schulnoten, in dieser Zeit gibt es auch neue Techniken, um Arbeitsleistung im Erwerbsleben zu vermessen. In dieser Zeit entsteht dann auch der Intelligenztest, der ja tatsächlich mit dem Anspruch auftritt, so eine weltweite Vergleichbarkeit zu erlauben.

Der Kapitalismus ist nicht allein schuld

Welty: Warum war das ausgerechnet der entsprechende Zeitpunkt, was ist da passiert gesellschaftlich?
Verheyen: Da kommen ganz verschiedene Dinge zusammen. Man kann es auf jeden Fall nicht auf beispielsweise den Kapitalismus als solchen rückführen, das wäre zu einfach.
Welty: Der ist an manchem schuld, aber nicht da.
Verheyen: Genau. Na ja, er ist schon auch mit schuld, aber eben nicht alleine. Es kommen da verschiedene Dinge zusammen, unter anderem auch die Globalisierung, also eine zunehmende transnationale Verflechtung in dieser Zeit, die solche Großereignisse wie etwa die Olympischen Spiele ja erst ermöglicht, die zugleich aber auch sinnvoll erscheinen lässt, sich abzuschließen, denn indem so Leistungsstandards entwickelt werden, geht es immer auch um eine Abschließung nach außen.
Ich komme noch mal auf das Abitur zurück, das hatten dann eben Schüler aus anderen Ländern nicht, und auf dieser Grundlage konnte man sie auch fernhalten schließlich von den deutschen Universitäten.
Welty: Wir neigen ja dazu, Leistung zu individualisieren, ist das ein richtiger, ein gerechter Ansatz?
Verheyen: Ich denke, dieser Ansatz greift viel zu kurz, das ist eben der entscheidende Punkt. Letztlich stehen hinter dem, was Menschen dann leisten, immer ganz viele andere auch, die diesen Menschen geholfen haben. Das gilt bei den Schülern, das gilt aber auch genauso bei den Sportlern. Und diese Teams, wenn man so will, die hinter dem Einzelnen stehen, die werden zu schnell vergessen – nicht nur, weil sich in diesen Teams Leute befinden, die gut bezahlt werden, andere, die wenig bezahlt werden, und wieder andere, die gar nicht bezahlt werden, sondern auch, weil diese Teams gewissermaßen unterschiedlich groß ausfallen.

Gemeinsame Anstrengung hinter einer Leistung

Also der eine kann sich da einfach auf ein großes Team stützen, auf Eltern, die ihn immer schon unterstützt haben, und der andere nur auf ein ganz kleines, und an dieser Stelle beginnt im Grunde genommen schon die Ungerechtigkeit.
Welty: Was ist Ihre Idee von einem sinnvolleren Umgang mit Leistung?
Verheyen: Mein Plädoyer ist, zunächst mal sensibler mit dieser Kategorie umzugehen, also nicht ganz auf sie zu verzichten, da würde man meines Erachtens das Kinde mit dem Bade ausschütten, sondern sich sensibler zu zeigen für diese soziale Dimension – für die gemeinsame Anstrengung, die hinter dem steht, was dann als individuelle Leistung gilt, und auch für den gemeinsamen Bewertungsakt, der so etwas wie eine individuelle Leistung erst ermöglicht.
Welty: Die Historikerin Nina Verheyen im "Studio 9"-Gespräch, haben Sie herzlichen Dank!
Verheyen: Ja, danke Ihnen!
Welty: Und das Buch von Nina Verheyen, "Die Erfindung der Leistung", das ist bei Hanser erschienen, knapp 260 Seiten kosten 23 Euro. Und mit diesem Buch liegt Nina Verheyen aktuell auf Platz drei der Sachbuch-Bestenliste für März in Zusammenarbeit mit der "Zeit" und dem ZDF.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung
Hanser Berlin, 2018
256 Seiten, 23 Euro

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