Bis heute streben manche soziale Bewegungen alternative Wirtschaftsformen an, in deren Zentrum nicht die Profitmaximierung, sondern die Befriedigung von Bedürfnissen steht. Wird dort ein ganz anderes Verhältnis von Moral und Wirtschaften angestrebt, als im Kapitalismus möglich? Und haben wir als Konsumierende die Macht, den Kapitalismus zum Besseren zu verändern? Auch über diese Fragen haben wir mit Ute Frevert nachgedacht.
Gibt es den moralischen Kapitalismus?
24:14 Minuten
Unser Wirtschaftssystem wird gern als Raubtier beschrieben: blutrünstig und tödlich. Dabei funktioniere der Kapitalismus ohne Moral nicht, meint Historikerin Ute Frevert. Liegt darin die Chance, ihn zu verbessern?
Die sogenannte "Bibel des Kapitalismus" ist schon knapp 250 Jahre alt, stammt aus der Feder des schottischen Moralphilosophen Adam Smith und heißt "Der Wohlstand der Nationen". Darin beschreibt Smith den Kapitalismus als ein Wirtschaftssystem mit freien Märkten, Investitionen und Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Das gilt auch heute noch. Und sogar noch mehr: Wo das kapitalistische Prinzip früher eines unter anderen war, hat es sich im Verlauf der beiden letzten Jahrhunderte zur dominanten Wirtschaftspraxis entwickelt und unterwirft immer mehr Lebensbereiche seine Logik – "von der Liebe bis zum Tod", so die Historikerin Ute Frevert. Ist das nun gut oder schlecht?
Wenn die Wirtschaft die Grundlagen der Demokratie verletzt
Vermarktlichungen seien dann problematisch, argumentiert Ute Frevert, wenn sie allgemeinwohlorientierte Prinzipien zugunsten einer Profitorientierung aushebelten, von der nur eine gesellschaftliche Minderheit profitieren kann. Als aktuelles Beispiel führt sie den Handel mit Staatsbürgerschaften an. Unter den Titeln "Golden Visa" oder "Green Cards" bieten einige Staaten finanzstarken Ausländern die Möglichkeit, sich eine Staatsbürgerschaft zu kaufen. Der Großteil schlechter gestellter Anwärter und Anwärterinnen auf Einbürgerung muss dagegen draußen bleiben. Daraus ergebe sich eine moralisch problematische Ungleichheit, so Frevert:
"Auf der einen Seite bauen die USA – und nicht nur die USA – Mauern, um Einwanderer abzuhalten; auf der anderen Seite dürfen die hinein, die mit einem großen Checkbuch winken und in strukturschwachen Regionen wenige Arbeitsplätze schaffen. Und das, obwohl der Erwerb der Staatsbürgerschaft eigentlich an ganz andere Kriterien geknüpft ist: Anwärter sollten die Sprache sprechen, über die Geschichte des Ziellandes wissen, sie sollten eine Art politischer und emotionaler Bindung haben. All diese Fragen werden bei denen mit großem Checkbuch überhaupt nicht abgefragt, so dass das Recht, sich Staatsbürgerin eine bestimmten Landes zu nennen, vollkommen entleert wird."
Wenn Vermarktlichungen die Prinzipien der gleichen Rechte und Pflichten unterwandern, dann greifen sie die Grundlagen der Demokratie an. Mit Blick auf die Ökonomisierung von Staatsbürgerschaften kommt Ute Frevert deshalb zu einem eindeutigen Schluss: "Staatsbürgerschaften dürfen nicht gegen Geld feilgeboten werden".
Kapitalismus ohne Moral funktioniert nicht
Aber funktioniert der Kapitalismus tatsächlich ganz ohne Moral? Ganz im Gegenteil, führt Frevert aus, sei unser Wirtschaftssystem selbst angewiesen auf moralisches Verhalten:
"Ein Kapitalismus, der ausschließlich auf Effizienz – effizienten Marktbeziehungen – beruht, wäre auf Dauer nicht überlebensfähig", meint die Historikerin. "Unser Wirtschaftssystem konnte nur deshalb so erfolgreich werden, weil es sich unter großem gesellschaftlichem Druck moralischen Imperativen angepasst hat. Der Kapitalismus braucht den Widerstand der Arbeiterklasse, die privaten Hilfeleistungen und den Sozialstaat, damit er überhaupt zugreifen kann auf ‚die Ware Arbeitskraft‘ und sich von Krisen immer wieder regenerieren kann".
Lob der praktischen Kritik
Es sei genau diese von Moral getriebene Kritik, die den Kapitalismus schon immer dazu gezwungen habe, sich zu verändern und moralischer zu werden. Auf diese Kraft müssten wir heute weiter setzen, folgert Ute Frevert:
"Es ist letztlich ein politischer Aushandlungsprozess, den wir über den Kapitalismus führen und dass wir ihn heute wieder so stark führen, dank ‚Fridays for Future‘, das ist ein Lichtblick".
Ute Frevert: "Kapitalismus, Märkte und Moral", Residenz Verlag; 151 Seiten, 20 Euro.
Außerdem in der Sendung:
Carola Rackete, Greta Thunberg, Alexandria Ocasio-Cortez: alle drei jung, weiblich, mutig. Kein bisschen laut, protzig, großkotzig. Heldentum geht heute anders, und das ist gut so, kommentiert der Philosoph Arnd Pollmann.
Sinnbildlich für die Philosophie steht die antike Männerbüste: bärtig, in Denkerpose. Gilles Ménages "Geschichte der Philosophinnen" aus dem 17. Jahrhundert zeigt: Philosophie war schon immer auch weiblich.