Historikertag in Leipzig
Fragile Fakten in Leipzig: Der 54. Deutsche Historikertag wurde mit Bundespräsident Steinmeier eröffnet. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Verbrechen und „fragile Fakten“
In Leipzig findet der Historikertag statt. Die geschichtswissenschaftliche Tagung steht in Zeiten von Fake-News-Debatten unter dem Motto „Fragile Fakten“. Auch der Streit um NS- und Kolonialverbrechen ist ein Thema.
Der Deutsche Historikertag findet vom 19. bis 22. September in Leipzig statt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach bei der Eröffnung in der Leipziger Nikolaikirche: Für Deutsche seien der Blick zurück sowie die Lehren aus der Vergangenheit „ein konstitutiver Teil unserer Identität“. Der Historikertag steht 2023 unter dem Motto „Fragile Fakten“.
Überblick
Was ist der Historikertag?
Der Deutsche Historikertag findet in diesem Jahr zum 54. Mal statt. Der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands erwartete zwischen dem 19. und 22. September eigenen Angaben zufolge rund 2.000 Besucherinnen und Besucher sowie mehr als 480 Referentinnen und Referenten und über 70 Sektionen. Damit ist er einer der größten geisteswissenschaftlichen Fachkongresse in Europa.
„Ziel der Treffen ist es, der Öffentlichkeit Ergebnisse der historischen Forschung vorzustellen, aktuelle Anliegen der Historiker:innen zu besprechen sowie sich fachlich und sozial auszutauschen“, teilte der Historiker-Verband mit.
Was bedeutet das Motto “Fragile Fakten”?
„Das Faktum ist wörtlich gesehen das Gemachte", erläutert Jakob Tanner, emeritierter Geschichtsprofessor an der Universität Zürich. "Es kommt sehr darauf an: Wie werden Fakten produziert? Im Begriff Fabrikation steckt eine Doppeldeutigkeit: Fabrikation heißt methodische, regulierte, wissenschaftlich kontrollierte Arbeit mit Quellen. Da kommen dann historische Fakten heraus. Das ist sozusagen der Stoff, aus dem auch die Geschichte gemacht ist. Und auf der anderen Seite heißt Fabrikation ja auch Erfinden, Erdichten, Lügen, also etwas, was die Gesellschaft sozusagen in Verschwörungstheorien und in Mythen hineinführt.“
Es gebe „keine absolute Wahrheit“, sagte Tanner. Aber in einer demokratischen Gesellschaft seien Wahrheitsansprüche „unverzichtbar“. „Die Geschichte muss schon ihre Verfahren, ihre wissenschaftlichen Werkzeuge eben so in Anschlag bringen, dass Geschichten rauskommen, die nicht einfach willkürlich sind, sondern die etwas aussagen über die Vergangenheit, wie man sie eben aufgrund einer sehr aufwendigen Auswertung von Dokumenten nachher darstellen kann.“
Welche Rolle spielt der Streit um NS- und Kolonialverbrechen?
In den 1980er-Jahren löste Ernst Nolte den Historikerstreit aus. Nolte stellte die Frage, ob der von Nazi-Deutschland begangene millionenfache Mord an den Juden Europas nicht eine Reaktion der Nationalsozialisten auf Stalins „Gulag-System“ gewesen sei – eine „asiatische Tat“ nannte Nolte das. Er erntete scharfen Widerspruch von anderen Wissenschaftlern.
Seit einigen Jahren wird teils von einem neuen Historikerstreit gesprochen - etwa um die Frage, ob der israelkritische Historiker und Philosoph Achille Mbembe aus Kamerun die Ruhr-Triennale eröffnen darf oder wie mit einem Kunstwerk der Kasseler documenta, das antisemitische Abbildungen zeigte, umzugehen sei.
Auf dem Deutschen Historikertag in Leipzig hat ein Podium das Thema neu aufgerollt. Der Titel: „Die Debatte um Kolonialismus und Holocaust revisited“.
Von einem Historikerstreit 2.0 zu sprechen, hält Michael Wildt nicht für treffend. Nur der erste Streit 1986/87 sei von der historischen Zunft geführt worden, betont der emeritierte Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert an der Berliner Humboldt-Universität.
Aktuell beteiligen sich aber auch Menschen aus Philosophie, Publizistik und Gedenkstätten an der Debatte, inwiefern die Verbrechen der NS- und der Kolonialzeit miteinander zu vergleichen sind, betont Wildt, der das Podium in Leipzig mit organisiert und moderiert hat.
Hinzu kommt laut Wildt: „Deutschland in 2023 ist nicht mehr Deutschland 1986/87. Wir haben eine viel diversere Gesellschaft, wir sind in einem ganz anderen globalen Zusammenhang. Wir sind mit Menschen in Deutschland, die ganz andere Geschichten mit sich bringen und deren Großeltern und Urgroßeltern nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun haben, die nicht mit zur deutschen Täterschaft gehören.“
Dadurch rücken andere Massenverbrechen und Gewalterfahrungen in den Blick – etwa die aus der Kolonialzeit. Auch ihnen wohne etwas Einzigartiges und Unverwechselbares inne, betont der NS-Forscher.
Die Singularität des Holocaust steht für Michael Wildt nicht zur Debatte. Der systematische Mord an rund sechs Millionen jüdischen Menschen, an Homosexuellen, Sinti und Roma sowie politischen Gegnern bleibe ein zentraler, unverzichtbarer Bezugspunkt der Vergangenheit.
Tatjana Tönsmeyer, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal: „Mit der Singularität des Holocaust haben wir uns versichert, dass wir die Lektion gelernt haben aus dem Nationalsozialismus. Jetzt geht es darum, das zu erweitern und darüber nachzudenken, wie die Erinnerung an andere Massenverbrechen, nicht-europäisch, aber von Europäern begangen, in diesen Erinnerungskontext so aufzunehmen ist, dass sie eine angemessene Repräsentation erfahren. Darum geht der Streit.“
Über welche Themen debattiert der Historikertag noch?
Das Tagungsmotto wurde in zahlreichen Vorträgen und Debatten auf dem Historikertag aufgenommen. Einige ausgewählte Titel von sogenannten Sektionen im umfangreichen Programm: „Unsicherheit und Handlungsmacht: Gerüchte als historische Ereignisse in Europa und Nordamerika“, „Fragile Fakten in den digitalen Geschichtswissenschaften: Fakes und Fehler oder Risiko und Chance?“, „Gerüchte, Geheimnisse, Falschnachrichten. Zur Evaluation politischer Informationen im 17. und 18. Jahrhundert“.
Außerdem auf der Tagesordnung: eine Veranstaltung mit dem Titel "metoohistory: Diskussionsveranstaltung zu Machtmissbrauch im deutschen Wissenschaftssystem".
tei, dpa, Historikertag.de, Isabel Fannrich-Lautenschläger