Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin.
Warum Nazi-Vergleiche rhetorische Rohrkrepierer sind
Hitler-Vergleiche kommen einfach nicht aus der Mode, ob in den Debatten im Netz, in den Medien oder unter Politikern. Originell ist das nicht, meint Pieke Biermann, sondern wohlfeil – und sehr gefährlich.
Inflation ist – mal für ökonomische Laien eingedampft –, wenn zu viel Geld im Umlauf ist und die Zahl der Nullen auf dem Schein umgekehrt proportional zum Wert. Zur Zeit herrscht allerdings eine andere Inflation: die von Hitler-Vergleichen seitens zu vieler Nullen mit Medienpräsenz.
Nun ist "Hitler" schon lange weltweit der Seibeiuns für fast alle Gefechts-, pardon: Geschäftslagen. Was wären britische Revolverblätter ohne Adolf and his likes und blitzkrieg im Fußball? Noch öder. Was wäre der "Spiegel" ohne Hitler-Titel? Womöglich längst pleite. "Hitler" ist eine Sammelbüchse, die sich endlos befüllen lässt – mit andern Nazis, Frauen, Hunden, Magensäure – und dem ZDF locker ein paar Jahre recht-öffentliche Sendezeit erschlossen hat.
Brandt, Geißler, Kohl - die Liste der Vergleichsfreunde ist lang
Im Kalten Krieg war "Hitler usw." der Trumpf beim Polit-Skat. Ältere Mitbürger erinnern sich noch an Heiner Geißlers Satz, die Pazifisten seien mitschuldig an Auschwitz, und Willy Brandts Konter, Geißler sei der schlimmste Hetzer seit Goebbels. Oder Helmut Kohls originelle Gleichschaltung von Goebbels und Gorbatschow als "PR-Experten".
Dann fiel die Mauer, der Kalte Krieg erfror, aber die Reflexe überlebten. Sie schlüpften mit in die "neue Weltordnung", in der der Krieg wieder heißer werden durfte. Hat noch jemand den nächsten Hitler-Impersonator präsent? Saddam Hussein, Golfkrieg 1991 ff.
Je länger eine Online-Diskussion, desto wahrscheinlicher Hitler
Inzwischen wird "Hitler" so oft aus dem Ärmel gezogen, dass er zum Auftrumpfen eigentlich nicht mehr taugen dürfte, aber komischerweise scheint ihn das immer wertvoller zu machen. Sogar ein neues Gesetz hat er inspiriert, extra für die Digiwelt – etwa ein halbes Jahrhundert nach Murphy's Law. Laut dem geht bekanntlich schief, was irgendwie schiefgehen kann. Godwin's Law nun besagt: "Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert Eins an." Für binäre Laien: Es gibt nur zwei Werte, der andere ist die Null.
Politiker können das auch analog. Seit auf griechischen Anti-Europa-Demos Angela Merkel als SS-Schergin auftaucht, seit polnische Regierungsgrößen sich als deutschophobe Trotzköpfchen gefallen, kann man sich mit der Nazi-Keule eigentlich nur noch lächerlich machen. Aber komisch ist das genauso wenig wie die hysterische Hitlerei in sogenannten sozialen Medien.
Diese Rhetorik beschädigt die historische Wachsamkeit
Vielen Amerikanern steckt das Lachen allerdings schon länger im Hals fest.
"Ich werde das Gefühl nicht los, die haben im Berlin anno 1933 gelernt: So viel rollback an so vielen Stellen gleichzeitig. Wenn wir hier einen faschistischen takeover kriegen, kommt diesmal hoffentlich Deutschland und rettet uns!"
Das ist ein Stoßseufzer der Krimi-Schriftstellerin Sara Paretsky von – tja: 2002. Kurz nach 9/11. Heute, 2017, ist historische Aufmerksamkeit eher noch dringender: Warnlämpchen sehen, früh genug wissen, wann man abhauen muss, das sind Überlebensmittel. Aber genau diese Sensibilität wird beschädigt durch inflationäres Gefuchtel mit "Hitler & Co".