Historische Augenblicke
Alexander Kluge hat im Jahr 2000 seine "Chronik der Gefühle" vorgelegt und damit eine Lücke innerhalb der Geisteswissenschaften geschlossen. Nun gibt es die Chronik auch als Hörbuch.
"Jeder ist an allem Schuld, aber wenn das jeder wüsste, hätten wird das Paradies auf Erden."
Das Interesse von Alexander Kluge, dem 1932 in Halberstadt geborenen Multitalent, gilt den Lücken. Besonders interessieren ihn jene, die der Teufel lässt, wie sein 2003 erschienenes Buch "Die Lücke, die der Teufel lässt" verdeutlicht. Dem Teufel genügt die kleinste Lücke, um Gebietsansprüche anzumelden und sie auszudehnen. Mit Vorliebe okkupiert er, was vergessen werden soll.
Gegen diese Vorherrschaft opponiert Alexander Kluge mit seinen Büchern – ein Engagement, für das er 2003 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Drei Jahre zuvor hat er mit der "Chronik der Gefühle" eine in den Geisteswissenschaften bestehende Lücke zu schließen gewusst. Während kein Mangel an Chroniken bestand, die mit Präzision historische Abläufe dokumentieren und auflisten, was sich ereignet hat, fehlte bis dahin eine Gefühlschronik.
"Hier eilt die Opernsängerin heran. Sie wird heute Abend die Rolle der Tosca singen. Da sie untersetzt ist, trägt sie hochhackige Schuhe. In sich – unbeachtet – trägt sie ein kleineres Gefühl mit Namen: Gleich fällst Du hin! Es liegt verborgen unter der leidenschaftlichen Hingabe der Mordlust im ausweglosen Moment die zur Rolle der Tosca gehören ist durch die Gefühle der Aida verdeckt, von denen sie in der vorigen Saison sang. Dennoch hat es Macht, Kraft und Ahnenfolge."
Bis zum Erscheinen von Kluges "Chronik der Gefühle" wurde dem Gefühlshaushalt derer, die Geschichte machen und von Geschichte gemacht werden, nur eine geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Doch gerade dafür, wie sich Gefühle ausbilden und was sich in ihnen ausdrückt, hat sich Alexander Kluge interessiert.
"Als wir noch Reptilien waren, kannten wir keine Gefühle, sondern ausschließlich Aktion: Ruhen, Warten, Angriff oder Flucht. Dann kamen die Eiszeiten. Als es auf dem blauen Planeten sehr kalt wurde, dachten wir oft sehnsüchtig an die Obermeere von 37 Grad Wärme. Wir lernten, Gefühle zu haben. Nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt. Das zu unterscheiden und Sehnsucht zu haben, das ist das, was die Gefühle können. Alles andere ist Kombination."
In dem zweibändigen Werk, das mehr als 1000 Seiten umfasst, und das jetzt als Hörcollage des Bayerischen Rundfunks in der Regie von Karl Bruckmaier vorliegt, ruft Alexander Kluge Ereignisse von historischer Tragweite aus unterschiedlichen Epochen auf. Diese Chronik sollte aber nicht nur aus Konzentraten bestehen, die als Zäsuren der Geschichte erinnert werden.
"Das Konzentrieren allein ist eine Sackgasse. [ ... ] Die Lakonie bleibt ein Ideal [ ... ] und gleichzeitig müssen wir seitliche davon die lebendige Kommunikation, also das Reden ohne Sinnzwang, ebenfalls erlauben. Also, Schulstunde und Schulpause und die Dramaturgie der Schulpause ist die glücklichere. Die Leser wünschen nicht nur Kürze. Die Lösung ist, dass sie diese Konzentrate beibehalten, gleich neben den Konzentraten aber Dialoge, leichte Redeweise, andere Beispiele. Das heißt also, Befreiung vom Sinnzwang – hinzufügen. Also: Hunger nach Sinn und Befreiung vom Sinnzwang sind zwei Gefäße, die literarisch genau gleichwertig sind und zwischen denen man eine Balance üben kann."
Dieses erzählerische Prinzip hat Alexander Kluge in seiner "Chronik der Gefühle" umgesetzt. Zu Ereignissen wie sie die Bombardierung Halberstadts im Zweiten Weltkrieg oder die Schlacht um Stalingrad darstellen, hat er scheinbar unwesentliche Randepisoden gefunden, die im Moment, in denen man sie hört, eher nebensächlich erscheinen und erst später offenbaren, was sie bedeuten.
"Geschichten über das Eigentum, das jeder Mensch besitzt. Seine Lebenszeit, seinen Eigensinn."
"Die Schultern gekrümmt, hockt der Wirt des Lokals Brusquetta d' Agneau über seiner Zeitung und dem Milchkaffee. Seine Frau, die Wirtin, macht ihn aufmerksam auf die Auseinandersetzung zwischen drei Hunden im Hauseingang gegenüber. Jetzt sind die Hunde verschwunden. Der Wirt blickt (in der Trägheit des Morgens) noch immer zur Tür, durch die sie ins Haus verschwanden (bis zuletzt im Streit). Er hat seinen Kopf mit gleichgültig-neugierigem Augenausdruck insgesamt 31 Sekunden in der seitlichen Richtung gehalten. Er rückt sein Gesichtsfeld nunmehr zur Zeitung hin."
Die Aufmerksamkeit des Mannes wird von der Zeitung, die ein Konzentrat von Informationen darstellt, und der ihn unmittelbar umgebenden Alltagsrealität beansprucht, auf die ihn seine Frau aufmerksam gemacht hat. Mit einem Seitenblick registriert er, was sich in nächster Nähe ereignet und wendet sich dann wieder dem Nachrichtenblatt zu.
"Der Wirt hat weniger als 0,0001 Prozent seiner Lebenszeit für den Seitenblick auf die Hunde verbraucht."
Solche Seitenblicke gehören zu Kluges erzählerischem Prinzip. Bei der Auswahl und Anordnung dieser Geschichten ist es entscheidend, dass sie eine Spur im Gedächtnis hinterlassen und in Erinnerung bleiben, damit sie zu anderen Geschichten in Beziehung treten können, zu denen sie eigentlich nicht zu gehören scheinen. Durch das Arrangement solcher Konstellationen, kommentieren sich die Geschichten gegenseitig.
"Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück: Deutschland."
Dieses Wort wird in der beeindruckenden Toncollage nachdrücklich und in verschiedenen Variationen zum Klingen gebracht. Am Zustandekommen dieses monumentalen Klanggebildes, dem man gebannt und staunend folgt, haben neben dem Autor und vielen anderen auch Elfriede Jelinek, Hannelore Hoger, Christoph Schlingensief, Volker Schlöndorff, Ilja Richter, Wim Wenders, Hanns Zischler mitgewirkt. Die einzelnen Geschichten werden gelegentlich durch Alexander Kluges Kommentare unterbrochen. Das so entstandene Hörbuch stellt keine leichte Kost dar. Wem sie zu schwer ist, der muss den Blick nur ein wenig zur Seite wenden, um zu finden, was er nicht braucht. Der Regisseur Karl Bruckmaier hat Alexander Kluge und die zahlreichen Akteure für die Inszenierung einer Geschichtssymphonie gewinnen können, in der Geschichte auf so eigenwillige und zugleich spannende Weise mit Beispielen und Kommentaren dargestellt wird, dass man gern den Schneisen folgt, die ins Dickicht aus Unvernunft geschlagen werden. Deutlich wird dabei eine besondere Vorliebe des Musikliebhabers Kluge für Dissonanzen.
"Das ist die Dissonanz, eines der besten Musikstücke der Welt. Ein Musikstück der Evolution sozusagen, dem wir da zuhören können und nicht nur zuhören, wir machen ja diese Musik und insofern würde ich sagen, wenn irgendeiner sagt, wir haben Anlass zur Verzweiflung, würde ich sagen: Nein. Wenn irgendeiner sagt, wir haben Anlass zum Optimismus, würde ich sagen: Nein. Sondern in der Interaktion zwischen dieser Mitgift Urvertrauen und dieser tatsächlichen Unbarmherzigkeit der Welt, da gibt es Auswege, da findet ein Ringen statt. Das nennt man den antirealistischen Affekt des Gefühls."
Ganz realistisch und nicht im Überschwang der Gefühle, darf man dieses Hörbuch ein Ereignis nennen.
Besprochen von Michael Opitz
Alexander Kluge: Chronik der Gefühle
Hörspielbearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier
Verlag Antje Kunstmann 2009
14 CDs, 58 Euro
Das Interesse von Alexander Kluge, dem 1932 in Halberstadt geborenen Multitalent, gilt den Lücken. Besonders interessieren ihn jene, die der Teufel lässt, wie sein 2003 erschienenes Buch "Die Lücke, die der Teufel lässt" verdeutlicht. Dem Teufel genügt die kleinste Lücke, um Gebietsansprüche anzumelden und sie auszudehnen. Mit Vorliebe okkupiert er, was vergessen werden soll.
Gegen diese Vorherrschaft opponiert Alexander Kluge mit seinen Büchern – ein Engagement, für das er 2003 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Drei Jahre zuvor hat er mit der "Chronik der Gefühle" eine in den Geisteswissenschaften bestehende Lücke zu schließen gewusst. Während kein Mangel an Chroniken bestand, die mit Präzision historische Abläufe dokumentieren und auflisten, was sich ereignet hat, fehlte bis dahin eine Gefühlschronik.
"Hier eilt die Opernsängerin heran. Sie wird heute Abend die Rolle der Tosca singen. Da sie untersetzt ist, trägt sie hochhackige Schuhe. In sich – unbeachtet – trägt sie ein kleineres Gefühl mit Namen: Gleich fällst Du hin! Es liegt verborgen unter der leidenschaftlichen Hingabe der Mordlust im ausweglosen Moment die zur Rolle der Tosca gehören ist durch die Gefühle der Aida verdeckt, von denen sie in der vorigen Saison sang. Dennoch hat es Macht, Kraft und Ahnenfolge."
Bis zum Erscheinen von Kluges "Chronik der Gefühle" wurde dem Gefühlshaushalt derer, die Geschichte machen und von Geschichte gemacht werden, nur eine geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Doch gerade dafür, wie sich Gefühle ausbilden und was sich in ihnen ausdrückt, hat sich Alexander Kluge interessiert.
"Als wir noch Reptilien waren, kannten wir keine Gefühle, sondern ausschließlich Aktion: Ruhen, Warten, Angriff oder Flucht. Dann kamen die Eiszeiten. Als es auf dem blauen Planeten sehr kalt wurde, dachten wir oft sehnsüchtig an die Obermeere von 37 Grad Wärme. Wir lernten, Gefühle zu haben. Nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt. Das zu unterscheiden und Sehnsucht zu haben, das ist das, was die Gefühle können. Alles andere ist Kombination."
In dem zweibändigen Werk, das mehr als 1000 Seiten umfasst, und das jetzt als Hörcollage des Bayerischen Rundfunks in der Regie von Karl Bruckmaier vorliegt, ruft Alexander Kluge Ereignisse von historischer Tragweite aus unterschiedlichen Epochen auf. Diese Chronik sollte aber nicht nur aus Konzentraten bestehen, die als Zäsuren der Geschichte erinnert werden.
"Das Konzentrieren allein ist eine Sackgasse. [ ... ] Die Lakonie bleibt ein Ideal [ ... ] und gleichzeitig müssen wir seitliche davon die lebendige Kommunikation, also das Reden ohne Sinnzwang, ebenfalls erlauben. Also, Schulstunde und Schulpause und die Dramaturgie der Schulpause ist die glücklichere. Die Leser wünschen nicht nur Kürze. Die Lösung ist, dass sie diese Konzentrate beibehalten, gleich neben den Konzentraten aber Dialoge, leichte Redeweise, andere Beispiele. Das heißt also, Befreiung vom Sinnzwang – hinzufügen. Also: Hunger nach Sinn und Befreiung vom Sinnzwang sind zwei Gefäße, die literarisch genau gleichwertig sind und zwischen denen man eine Balance üben kann."
Dieses erzählerische Prinzip hat Alexander Kluge in seiner "Chronik der Gefühle" umgesetzt. Zu Ereignissen wie sie die Bombardierung Halberstadts im Zweiten Weltkrieg oder die Schlacht um Stalingrad darstellen, hat er scheinbar unwesentliche Randepisoden gefunden, die im Moment, in denen man sie hört, eher nebensächlich erscheinen und erst später offenbaren, was sie bedeuten.
"Geschichten über das Eigentum, das jeder Mensch besitzt. Seine Lebenszeit, seinen Eigensinn."
"Die Schultern gekrümmt, hockt der Wirt des Lokals Brusquetta d' Agneau über seiner Zeitung und dem Milchkaffee. Seine Frau, die Wirtin, macht ihn aufmerksam auf die Auseinandersetzung zwischen drei Hunden im Hauseingang gegenüber. Jetzt sind die Hunde verschwunden. Der Wirt blickt (in der Trägheit des Morgens) noch immer zur Tür, durch die sie ins Haus verschwanden (bis zuletzt im Streit). Er hat seinen Kopf mit gleichgültig-neugierigem Augenausdruck insgesamt 31 Sekunden in der seitlichen Richtung gehalten. Er rückt sein Gesichtsfeld nunmehr zur Zeitung hin."
Die Aufmerksamkeit des Mannes wird von der Zeitung, die ein Konzentrat von Informationen darstellt, und der ihn unmittelbar umgebenden Alltagsrealität beansprucht, auf die ihn seine Frau aufmerksam gemacht hat. Mit einem Seitenblick registriert er, was sich in nächster Nähe ereignet und wendet sich dann wieder dem Nachrichtenblatt zu.
"Der Wirt hat weniger als 0,0001 Prozent seiner Lebenszeit für den Seitenblick auf die Hunde verbraucht."
Solche Seitenblicke gehören zu Kluges erzählerischem Prinzip. Bei der Auswahl und Anordnung dieser Geschichten ist es entscheidend, dass sie eine Spur im Gedächtnis hinterlassen und in Erinnerung bleiben, damit sie zu anderen Geschichten in Beziehung treten können, zu denen sie eigentlich nicht zu gehören scheinen. Durch das Arrangement solcher Konstellationen, kommentieren sich die Geschichten gegenseitig.
"Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück: Deutschland."
Dieses Wort wird in der beeindruckenden Toncollage nachdrücklich und in verschiedenen Variationen zum Klingen gebracht. Am Zustandekommen dieses monumentalen Klanggebildes, dem man gebannt und staunend folgt, haben neben dem Autor und vielen anderen auch Elfriede Jelinek, Hannelore Hoger, Christoph Schlingensief, Volker Schlöndorff, Ilja Richter, Wim Wenders, Hanns Zischler mitgewirkt. Die einzelnen Geschichten werden gelegentlich durch Alexander Kluges Kommentare unterbrochen. Das so entstandene Hörbuch stellt keine leichte Kost dar. Wem sie zu schwer ist, der muss den Blick nur ein wenig zur Seite wenden, um zu finden, was er nicht braucht. Der Regisseur Karl Bruckmaier hat Alexander Kluge und die zahlreichen Akteure für die Inszenierung einer Geschichtssymphonie gewinnen können, in der Geschichte auf so eigenwillige und zugleich spannende Weise mit Beispielen und Kommentaren dargestellt wird, dass man gern den Schneisen folgt, die ins Dickicht aus Unvernunft geschlagen werden. Deutlich wird dabei eine besondere Vorliebe des Musikliebhabers Kluge für Dissonanzen.
"Das ist die Dissonanz, eines der besten Musikstücke der Welt. Ein Musikstück der Evolution sozusagen, dem wir da zuhören können und nicht nur zuhören, wir machen ja diese Musik und insofern würde ich sagen, wenn irgendeiner sagt, wir haben Anlass zur Verzweiflung, würde ich sagen: Nein. Wenn irgendeiner sagt, wir haben Anlass zum Optimismus, würde ich sagen: Nein. Sondern in der Interaktion zwischen dieser Mitgift Urvertrauen und dieser tatsächlichen Unbarmherzigkeit der Welt, da gibt es Auswege, da findet ein Ringen statt. Das nennt man den antirealistischen Affekt des Gefühls."
Ganz realistisch und nicht im Überschwang der Gefühle, darf man dieses Hörbuch ein Ereignis nennen.
Besprochen von Michael Opitz
Alexander Kluge: Chronik der Gefühle
Hörspielbearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier
Verlag Antje Kunstmann 2009
14 CDs, 58 Euro