Die Anschläge von Halle und Hanau müssten auf dem Lehrplan stehen
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Eine werteneutrale historische Bildung gibt es nicht. Geschichtsdidaktik hat Verantwortung im Kampf gegen Rechts, so das Fazit einer Tagung an der FU Berlin. Eine Forderung: Das Thema dürfte im Geschichtsunterricht nicht mit 1945 enden.
Welche Rolle kann historisches Lernen, kann Geschichtswissenschaft und Didaktik im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus – Antisemitismus spielen? Welche Verantwortung kommt dabei den Universitäten, die Lehrer ausbilden, den Bildungspolitikern und auch den Gedenkstätten zu? Diese Fragen haben Historikerinnen und Historiker auf einer Konferenz der FU Berlin diskutiert. "Geschichte gegen rechts" hieß die Veranstaltung.
Dass Geschichte gegen Rechts ein wichtiger Faktor sein kann, das zeigt sich besonders konkret an den Gedenkstätten in Deutschland. Denn die sind Rechtsextremisten alles andere als egal. Im Gegenteil, sie werden von ihnen seit einigen Jahren immer wieder angegriffen, sagt Patrice Poutrus, Zeithistoriker an der Universität Erfurt:
"Das zeigt, dass dies Punkte sind, die diejenigen, die ein ganz anderes Gesellschaftsverständnis haben, massiv stört, dass sie nicht nur einfach ignoriert werden. Das könnte man ja sagen, wenn die Arbeit, die insbesondere die Menschen in den NS-Gedenkstätten machen, egal wäre, dann würden die nicht so massiv angegriffen."
Gedenkstätten sind keine Bekehrungsorte
Die Rolle, die den Gedenkorten daraus erwächst – als Bildungsstätte gegen rechte Indoktrination – besteht allerdings nicht darin, Feinde der Verfassungsordnung zu bekehren, sagt Poutrus. Historisch-politische Bildungsarbeit, ob in Gedenkstätten, in Projekten, in der Schule ziele generell auf andere und anderes.
"Sie sollte in aller Regel darauf zielen, diejenigen zu stärken und zu ermutigen, die für diese Ordnung einstehen oder ihr kritisch gegenüberstehen, aber kritisch eher in einem affirmativen Sinne nach dem Motto: Artikel 1 bis 20 gut und schön, aber wie sieht es denn damit wirklich aus?"
Überhaupt sei ein Paradigmenwechsel in der historisch-politischen Bildung der Gedenkstätten notwendig, meint der Historiker Thomas Köcher. Er leitet die Landeszentrale für politische Bildung in Bremen. Da die Gedenkorte quasi zu "Austragungsorten" der politischen Auseinandersetzung geworden sind, müssten sie im Kampf gegen Rechts Position beziehen
"Diese Forderung nach einer erinnerungspolitischen Wende oder nach einem Schlussstrich zeigen eigentlich, dass die Gedenkstätten genau die richtigen Orte dafür sind, jetzt zu zeigen und Position zu beziehen und zu sagen, was man eigentlich lernen kann."
Man müsse nämlich tatsächlich jetzt anfangen, aus der Geschichte zu lernen – allerdings in einem bestimmten Sinn:
"Und das heißt, nicht nur in der alten Dichotomie zwischen Tätern und Opfern zu bleiben und zu sagen, das gab es damals, sondern tatsächlich eher darauf zu gehen, dass wir junge Menschen mit Kompetenzen in Richtung forschendes Lernen ausstatten und dann wieder für sich selbst die Fragen zu beantworten: Was kann ich persönlich aus der Vergangenheit lernen, was hat das mit der Gegenwart zu tun und wo stehen wir da eigentlich gerade?"
Zwar weniger direkt, aber doch häufiger als bei den meist ja nur einmaligen Besuchen von Gedenkstätten werden junge Leute in der Schule mit Geschichte konfrontiert. Und so dürften Lerninhalte und Lehrpläne die härteste Währung sein in einer Geschichtsdidaktik gegen Rechts.
Rechter Terror ist kein Phänomen des letzten Jahrhunderts
Das Problem, das einige Didaktiker auf der Konferenz sehen: Die Geschichte endet im Unterricht fast immer im Jahr 1945.
Nicht erst seit der Mordserie des NSU hätte die Geschichte von Rechtsextremismus in der Bundesrepublik aber fester Bestandteil zumindest der deutschen Erinnerungskultur sein können oder sein müssen, sagt Martin Lücke, Geschichtsdidaktiker an der FU-Berlin. "Wir sind aber auch im Geschichtsunterricht dazu herausgefordert uns dieses Themas anzunehmen."
Dass rechter Terror eben nicht nur ein historisches Phänomen des letzten Jahrhunderts ist, wird Schülern derzeit, zumindest im Geschichtsunterricht, nicht vermittelt. Halle und Hanau müssten auf dem Lehrplan stehen, sagt Lücke. Und auch die vermeintlichen Ursachen für rechte Gewalt könnten Historiker gemeinsam mit Schülern kritisch hinterfragen:
"Rechte politische Gewalt wird oft damit begründet, dass wir in einer Zeit von rasantem und offenbar beunruhigendem kulturellem und sozialem Wandel leben. Wir als Historiker und Didaktiker sind aber Experten für Antworten auf Bedrohungen, die sich aus so einer Wandel-Metapher ergeben. Wir wissen, dass Wandel und Krise Rhetoriken sind, um andere Dinge zu stabilisieren."
Einen globalen Dialog zu Rassismus ermöglichen
Auch wenn es um Rassismus geht, kann Geschichtsdidaktik eine wichtige Rolle spielen, sagt die Soziologin Natasha Kelly. Allerdings sollten sich Schülerinnen dabei im Unterricht nicht nur mit der Segregation in den USA beschäftigen oder der Apartheid in Südafrika:
"Wir neigen dazu vor allem, wenn wir über Rassismus gegen schwarze Menschen reden, immer ins Ausland zu gucken. Was wir dabei aus den Augen lassen ist, dass Europa die Wiege des Rassismus ist. Das ist der erste Punkt, wo wir anfangen müssen, überhaupt über Rassismus zu reden. Und Grundlagen zu schaffen, für einen globalen Dialog zu Rassismus."
Was so gut wie alle Teilnehmer der Konferenz fordern: Lehrerinnen und Lehrer sollten selbstbewusster auftreten – wenn es um die Gefahr von rechts geht. Auch gegen den Widerstand etwa von Politikern der AfD, die auf vermeintliche Neutralität pochen.
"Es ist wichtig, dass wir nicht so neutral sprechen können. Was wir erleben, ist ein Versuch, links und rechts irgendwie gleichzusetzen. Und das funktioniert nicht. Ich bin die letzte, die versucht, alle linken Positionen zu verteidigen, da gibt es auch schlimme, auch antisemitische. Aber: Sie gehen von der Gleichheit aller Menschen aus – und das tun rechte Positionen grundsätzlich nicht. Und diese Unterscheidung muss immer wieder vermittelt werden", sagt die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt.
Historische Bildung ohne Werte funktioniert nicht
Vor allem die AfD verweist immer wieder auf den so genannten Beutelsbacher Konsens, der einige Grundsätze für Politik und Geschichtsunterricht formuliert. Etwa das Indoktrinationsverbot: Lehrer sollen ihre Schüler nicht indoktrinieren – ihnen also nicht ihre eigene politische Meinung aufzwingen sondern sie in die Lage versetzen, sich ihre eigene zu bilden.
Außerdem das Gebot der Kontroversität: die Lehrerin muss ein Thema kontrovers darstellen und diskutieren können, wenn es in der Wissenschaft oder Politik kontrovers erscheint. Die Partei ruft zur Denunziation von Lehrern auf, die angeblich gegen diese Grundsätze verstoßen.
"Und plötzlich haben alle unglaubliche Angst davor und scheuen sich, für mich ist das einfach ein Signal" sagt der Historiker Thomas Köcher. "Wir müssen mehr auch in der politischen Bildung darüber reden, dass politische Bildung nicht wertneutral ist, sondern dass sie auf Werten fußt. Ansonsten kann sie nicht funktionieren."
Und genau weil politische und historische Bildung eben nicht werteneutral sein sollte, biete sie die Chance, rechtspopulistischer und rechtsradikaler Indoktrination etwas entgegenzusetzen.