Historische Forschung in Romanform

Rezensiert von Nana Brink |
Noch bevor die Deutsche Demokratische Republik ein eigener Staat wird, gründet sich 1946 die Freie Deutsche Jugend als offizielle Jugendorganisation. Und natürlich bekommt sie ein Sprachrohr: Die "Junge Welt", die – laut Funktionärsdeutsch - "politische Tageszeitung der sozialistischen Jugendorganisation für die gesamte Masse der Jugend".
Ihre ersten Artikel klingen sprachlich wie das Funktionärsdeutsch jener Tage. Auch die inhaltliche Linie stimmt. Von Anfang an; bis zum Ende der DDR, als die "Junge Welt" mit 1,6 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Tageszeitung der DDR ist, noch vor dem "Neuen Deutschland". Fast jeder Jugendliche liest sie. Michael Meyen und Anke Fiedler hätten deshalb einen besseren Titel für ihr Buch finden können: "Wer jung ist, liest die Junge Welt".

"Wenn hier die Geschichte dieser Zeitung nachgezeichnet wird, dann geht es zugleich um den Journalismus in der DDR. Was waren das für Menschen, die in den Redaktionen gearbeitet haben? Wie viel Staatssicherheit steckte in dem Blatt? Aus der Vogelperspektive ist das natürlich schon beschrieben worden. Man kennt die Wege, auf denen der Wille der SED-Spitze in die Presse und ins Fernsehen kam. Dieses Buch versteht sich aber auch als Biografie. Das Genre Biografie und der Gegenstand 'Junge Welt' schrauben die Ansprüche an die Gestaltung hoch."

Zu recht. Aber "historische Forschung kann das" – um die Autoren nochmals zu zitieren – "ohne zum Roman zu werden und auf Fußnoten zu verzichten". Und die Autoren können "historische Forschung" in Romanform. Ihr Buch ist ein sehr gelungenes Beispiel für lebendige Geschichtsschreibung, wie wir sie sonst nur aus angelsächsischen Ländern kennen. Flüssig und flott geschrieben, ohne auf Tiefgang zu verzichten. Wer jung war in der DDR, der findet sich wieder.

Leser: "Ich habe die 'Junge Welt' gelesen, ich habe sie, ich gestehe, auch sehr gern gelesen, von hinten nach vorne, wie man das im Osten so gemacht hat, weil vorne stand ja das, was alle eh schon gewusst und nicht geglaubt haben... also da gab es die offizielle Parteilinie. Und je weiter man nach hinten kam, desto interessanter wurde es – für DDR-Verhältnisse! – und ganz hinten war der Sport und der war in der 'Jungen Welt' besonders gut."

Die Autoren zäumen auch ihre Geschichte von hinten auf. Das auflagenstärkste Blatt der DDR ist keineswegs von Beginn an eine Erfolgsstory.

Joachim Herrmann: "Neue Aufgaben, liebe Freunde, fordern auch weitgehend neue Erkenntnisse. Notwendig dazu ist, dass wir lernen, lernen und nochmals lernen, wie es Lenin von der Jugend gefordert hat. Und das wir die Theorie stets mit der Praxis verbinden."

Joachim Hermann – von 1954-1960 Chefredakteur der "Jungen Welt" – gehört noch zur alten Garde, stramm auf Parteilinie, im Ton wie im Duktus, der auch die frühe Zeitung prägt. Dass man gerne eintaucht in die Welt der "Jungen Welt" von den frühen 50er Jahren bis hin zur "Totenstarre" der 80er Jahre, hat auch mit einem geschickten Kunstgriff der Autoren zu tun. Sie erzählen die Geschichte der Zeitung aus der Perspektive der Macher. Ihre Biografien stehen für die Entwicklung nicht nur der Zeitung, sondern auch der DDR.

Damit auch der Nicht-DDR-Bürger weiß, wo man sich gerade befindet, streuen Michael Meyen und Anke Fiedler historische Eckdaten ein, die wie Tickermeldungen auftauchen. Nicht nur die Macher werden greifbar, sondern auch die heimlichen Stars des Blattes, wie Kati Witt, die die Leser der "Jungen Welt" zur Sportlerin des Jahres 1987 wählten.

Kati Witt: "Bei meinen Vorträgen auf dem Eis darf ich nicht sprechen, das gibt Punktabzug. Hier bei Euch kann ich den Mund schon mal aufmachen, weil das ja unter uns sowieso üblich ist. Überhaupt sind wir Sportler des Landes immer dabei, wenn es darum geht, unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik, gut bei den internationalen Meisterschaften zu vertreten."

Bei aller Sympathie, die die Autoren für den Protagonisten ihres "Romans" haben: Sie verlieren nie die Distanz. Und natürlich spielt der Einfluss der Partei und auch der FDJ auf ihr "Zentralorgan" eine wesentliche Rolle. Aber der geübte DDR-Leser wusste sich darauf seinen Reim zu machen.

Leser: "Zwischen den Zeilen zu lesen, wie sich was entwickelt, die haben versucht, einen anderen Ton anzuschlagen, haben teilweise auch andere Themen gesucht. Was heißt frei? Wir haben heute auch noch eine Schere im Kopf."

Akribisch, aber nicht anklagend, listen die Autoren die Redaktionsmitglieder auf, die bei der Stasi Gehalt bezogen. Ebenso klug allerdings ist ihr Vorgehen, jedes platte Klischee zu vermeiden: Journalismus in der DDR hatte viele Grautönen. Auch die Beziehung der "Jungen Welt" zur FDJ ist mehr als schwarz-weiß.

"Die 'Junge Welt' und der Zentralrat der FDJ, das ist wie eine arrangierte Ehe. Verlobung 1947 in Berlin, Hochzeit im März 1952, Scheidung knapp 40 Jahre später. Während dieser Zeit kümmern sich beide Seiten mal mehr und mal weniger liebevoll umeinander. Die typischen Szenen im ehelichen Schlafzimmer: Krisen und Skandale, Höhenflüge und Machtspielchen, gepaart mit zeitweiligem Desinteresse."

"Wer jung ist, liest die Junge Welt" - aber auch wer das nicht mehr ist und Lust auf eine unterhaltsame Geschichtsstunde hat, der ist hier gut aufgehoben. Auch Bürger der alten Bundesrepublik können Vergnügen an der Lektüre haben. Und: Die "Junge Welt" gibt es heute noch. Als matter Abglanz alter Tage. Und mit Kommentaren, als hätte sich die Welt nicht gedreht.

Michael Meyen, Anke Fiedler Wer jung ist, liest die Junge Welt (Lesart)
Michael Meyen, Anke Fiedler: "Wer jung ist, liest die Junge Welt"© Promo
Michael Meyen, Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt
Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung

Ch. Links Verlag, Berlin 2013
240 Seiten, 29,90 Euro