Historische Premiere

Ein umstrittener Film über Flucht und Vertreibung

Der Schweizer Schauspieler und Regisseur Leopold Lindtberg (M) vor der Uraufführung des Films "Die letzte Chance" im Mai 1946 in München.
Der Schweizer Schauspieler und Regisseur Leopold Lindtberg (M) vor der Premiere des Films "Die letzte Chance" im Mai 1946 in München. © picture-alliance / dpa
Von Hartmut Goege |
Das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg hat der Schweizer Regisseur Leopold Lindtberg in seinem Spielfilm "Die letzte Chance" eindrücklich geschildert. Am 11. April 1946 lief der Film auch in deutschen Kinos an - nicht jeder war davon begeistert.
"Die letzte Chance": "Meine Weisungen erlauben mir nur, Militär reinzulassen, die Kinder und Personen über 65. Alle anderen muss ich zurückstellen, wenn sie nicht beweisen können, dass sie politisch verfolgt sind."
Schon fast ein Jahr lang lief das Schweizer Filmdrama "Die letzte Chance" weltweit in den Kinos, bevor es am 11. April 1946 mit seiner deutschen Erstaufführung in München starten konnte. Von Paris bis New York wurden das politische Engagement und die humanitäre Botschaft gefeiert.
"Ach Gott, wenn sie uns nur hereinlassen an der Grenze."
"Machen Sie sich keine Sorgen. Mit dem Kind wird man Sie schon hinüberlassen."
Norditalien 1943. Nach dem Sturz der Badoglio-Regierung, die mit den Amerikanern einen Waffenstillstand ausgehandelt hat, baut Hitler von Neapel aus eine neue Front auf. Fast 80.000 Flüchtlinge drängen von Süden zur Schweizer Grenze. Unter ihnen drei geflohene Kriegsgefangene, zwei Engländer und ein Amerikaner. Mithilfe italienischer Zivilisten erreichen sie ein Bergdorf, wo sie vom Pfarrer versteckt werden. Doch sie werden verraten.
Geschichte einer Gruppe herumirrender Flüchtlinge
Als deutsche Truppen das Dorf angreifen, entscheiden sie sich mit einer Gruppe herumirrender Flüchtlinge verschiedener Nationen über die Berge zu fliehen. Unter ihnen ein alter jüdischer Schneider aus Russland mit seiner jungen Nichte und eine Deutsche mit ihrem Sohn Bernhard.
"Es ist eine ungeheure Verantwortung bei diesem Wetter. Einmal in meinem Leben war ich in den Bergen. Wenn man sich da nicht zurechtfindet."
"Ich weiß gar nicht, warum wir hier so lange herumstehen und diskutieren. Wir haben gar keine Wahl."
"Well, we've no choice! We've got to go on."
Im Schneesturm lenkt Bernhard die deutsch-italienischen Grenzer ab, doch er stirbt im Kugelhagel und mit ihm der jüdische Schneider. Der Engländer Halliday, der den Juden retten will, wird lebensgefährlich verwundet, erreicht aber, wie die übrigen Flüchtlinge, noch die Schweiz, wo ihnen entgegen den geltenden Bestimmungen Asyl gewährt wird.
"Wohin kommen wir jetzt?"
"Ich weiß nicht, aber jetzt brauchst du dich vor niemandem mehr fürchten."
General Robert McClure, verantwortlich für die Medienkontrolle in der amerikanischen Besatzungszone, hatte den Film in die bayerische Landeshauptstadt geholt, sozusagen als Lehrfilm über die Kriegsfolgen und als Teil des Entnazifizierungsprogramms.
Proteste gegen den Film in Deutschland
Nicht überall im Nachkriegsdeutschland kam das Werk gut an. In einigen Kinos wurde randaliert und Regisseur Leopold Lindtberg erhielt Drohbriefe. Der gebürtige Wiener hatte schon im Berlin der 20er-Jahre mit dem einflussreichen Theaterintendanten Erwin Piscator gearbeitet und war nach Hitlers Machtübernahme auf Umwegen in die Schweiz geflohen. Dort hatte er mit anderen Emigranten am Schauspielhaus Zürich Arbeit gefunden.
"Wir wollten die Tragödie der im Krieg durch Europa gejagten Heimatlosen schildern. Das sollte ein Film werden, mit dem wir an das Gewissen der Menschen appellieren wollten, wo immer der Film gezeigt würde. Über das Elend der Flüchtlinge konnte man sich in der Schweiz ja ein sehr realistisches Bild machen. Denn Hunderttausende versuchten in diesen Jahren auf diesem kleinen, vom Krieg verschonten Platz Atem holen zu dürfen. Der Grenzübertritt in die Schweiz war, wirklich wörtlich zu verstehen, ihre letzte Chance."
Nach der deutschen Eroberung fast ganz Europas waren die Eidgenossen eingekreist. Da es Invasionspläne auch für die Schweiz gab, signalisierte die Berner Regierung völlige Neutralität. Mit der Folge einer unerbittlichen Das-Boot-ist-voll-Politik. 1942 schrieb die Basler "National-Zeitung":
"Es haben sich bei den Rückstellungen unbeschreiblich grauenhafte Szenen abgespielt; niemand wird daran zweifeln, dass den rückgestellten Flüchtlingen der sichere Untergang droht. Flüchtlinge, die seit Tagen auf unserem Boden und weit im Innern des Landes weilten, sind bereits ausgeliefert worden."
Lindtberg kritisierte spätere Asylpolitik der Schweiz
Da sich Lindtberg kritisch mit dieser Asylpolitik der Schweiz auseinandersetzte, wurden die Dreharbeiten willkürlich schikaniert. Trotz aller widrigen Umstände gelang Lindtberg ein Stück ergreifender Filmgeschichte. Gerade durch die Mitwirkung vieler Laiendarsteller, die in ihrer jeweiligen Muttersprache nichts anderes spielten als ihr eigenes Schicksal, erhält der Film seinen authentischen dokumentarischen Charakter. Eine der anrührendsten Szenen spielt sich in einer Berghütte ab, in der die erschöpften Flüchtlinge neue Kraftreserven schöpfen und gemeinsam ein über alle Sprachgrenzen hinweg bekanntes Kinderlied anstimmen:
"Ding ding dong - Das kennen wir doch!
"Bruder Jakob ..."
"Frère Jacques, Frère Jacques."
"Father Jacob, Father Jacob."
"Dormez-vous, dormez-vous? Sonnez les matines, Ding ding dong."
Im Herbst 1946 erhielt Lindtbergs Werk den internationalen Friedenspreis in Cannes. Obwohl Zehntausende während des Krieges an den Schweizer Grenzen abgewiesen wurden, machte ausgerechnet "Die letzte Chance" die humanitäre Rolle der Schweiz in aller Welt bekannt.
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