Historischer Blick auf ein kriegerisches Europa
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Europa der Schauplatz enormer gewaltsamer Auseinandersetzungen. Das Buch "Im Bann der Gewalt" des italienischen Historikers und Politikwissenschaftlers Enzo Traverso beschreibt, wie es dazu kam. Er liefert damit einen Beitrag zu einer gesamteuropäischen Geschichtsschreibung.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte Europa nahezu ununterbrochen extreme Gewaltexzesse. Historiker, Politik- und Sozialwissenschaftler versuchen - seit Zusammenbruch der politischen Blöcke verstärkt - dieses Phänomen zu analysieren und seine Bedeutung für den Verlauf der europäischen Geschichte zu erfassen. Für den Italiener Enzo Traverso, der seit den 1980-er Jahren an französischen Universitäten Politologie unterrichtet, ist die Periode zwischen 1914 und 1945 gekennzeichnet durch ein "Konfliktgeflecht aus `klassischen´ zwischenstaatlichen Kriegen, Revolutionen, Bürgerkriegen, nationalen Befreiungskriegen, Völkermorden und anderen gewaltsamen Auseinandersetzungen aufgrund von nationalen, religiösen, politischen, ideologischen und Klassengegensätzen". Anders als in einem herkömmlichen Krieg, in dem Nationalstaaten sich nach gewissen Regeln bekämpfen, sieht Traverso in den Konflikten zwischen 1914 und 1945 vor allem Ordnungsbrüche, Gesetzlosigkeit sowie Zunahme an Gräuel und Schreckenstaten. Für ihn, in kritischem Bezug auf die politische Theorie Carl Schmitts, Kennzeichen eines Bürgerkrieges.
Dezidiert bezieht sich Traverso in seinem neuen Buch "Im Bann der Gewalt" auf diesen, vom Maler Franz Marc vor Verdun geprägten Terminus, den der Historiker Ernst Nolte aufnahm, als er 1987 den sogenannten "Historikerstreit" auslöste. Traverso wendet sich aber gegen Noltes Interpretation, das nationalsozialistische System sei eine bloße Kopie des Totalitarismus der Sowjets gewesen, der Faschismus eine Antwort auf die Moderne, der Völkermord an den Juden ein "abgeleitetes Verbrechen".
Für Traverso beginnt der europäische Bürgerkrieg bereits mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges - nicht wie bei Nolte mit der russischen Oktoberrevolution. Die Lesart der europäischen Krise zwischen 1914 und 1945 als Bürgerkrieg ist an sich nicht neu. Traverso zitiert zeitgenössische Politiker, Militärs und Wissenschaftler, die schon damals die gewalttätigen Auseinandersetzungen in einen solchen Zusammenhang stellten und von einem "neuen Dreißigjährigen Krieg" sprachen (wie jetzt der Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte).
"Im Bann der Gewalt", als Beitrag zu einer gesamteuropäischen Geschichtsschreibung angelegt, entschlüsselt, beispielhaft in der Verarbeitung von Forschungsliteratur und Quellenmaterial, den wechselseitigen Einfluss von Kulturen und Ideen auf die Handlungsweise der europäischen Akteure.
Jenseits ideologischer Scheuklappen macht Traverso die politisch-gesellschaftlichen Konstellationen der damaligen Zeit transparent. Aus ihrem Geist heraus erklärt er Ideen und Kämpfe - und vermeidet, unser heutiges historisches Bewusstsein zum Kriterium der Bewertung zu machen. Deutlich wird, dass Fronten im Bürgerkrieg nicht eindeutig verlaufen. Und auch, dass Gewalt nicht Gegenteil, sondern Produkt der Moderne ist. Traverso betont, dass die moralische Verurteilung der Gewalt nicht ihre Analyse und Interpretation ersetzt. Er richtet daher sein Hauptaugenmerk auf die Täter und verweist darauf, dass deren Perspektive als Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts verloren geht, wenn man sich aus "posttotalitärer Empfindsamkeit" vorwiegend um eine Bewertung des Geschehenen aus Sichtweise der Opfer bemüht.
Traversos Studie schafft einen Kontext, in dem Faschismus und Widerstand, Heldentum und Angst, Aufklärung und Gewalt so miteinander in Bezug gesetzt werden, dass ein tieferes Verständnis der Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1914 und 1945 möglich wird.
Rezensiert von Carsten Hueck
Enzo Traverso: "Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 - 1945"
Aus dem Französischen von Michael Bayer.
Siedler, München 2008, 399 Seiten, 24,95 EUR
Dezidiert bezieht sich Traverso in seinem neuen Buch "Im Bann der Gewalt" auf diesen, vom Maler Franz Marc vor Verdun geprägten Terminus, den der Historiker Ernst Nolte aufnahm, als er 1987 den sogenannten "Historikerstreit" auslöste. Traverso wendet sich aber gegen Noltes Interpretation, das nationalsozialistische System sei eine bloße Kopie des Totalitarismus der Sowjets gewesen, der Faschismus eine Antwort auf die Moderne, der Völkermord an den Juden ein "abgeleitetes Verbrechen".
Für Traverso beginnt der europäische Bürgerkrieg bereits mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges - nicht wie bei Nolte mit der russischen Oktoberrevolution. Die Lesart der europäischen Krise zwischen 1914 und 1945 als Bürgerkrieg ist an sich nicht neu. Traverso zitiert zeitgenössische Politiker, Militärs und Wissenschaftler, die schon damals die gewalttätigen Auseinandersetzungen in einen solchen Zusammenhang stellten und von einem "neuen Dreißigjährigen Krieg" sprachen (wie jetzt der Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte).
"Im Bann der Gewalt", als Beitrag zu einer gesamteuropäischen Geschichtsschreibung angelegt, entschlüsselt, beispielhaft in der Verarbeitung von Forschungsliteratur und Quellenmaterial, den wechselseitigen Einfluss von Kulturen und Ideen auf die Handlungsweise der europäischen Akteure.
Jenseits ideologischer Scheuklappen macht Traverso die politisch-gesellschaftlichen Konstellationen der damaligen Zeit transparent. Aus ihrem Geist heraus erklärt er Ideen und Kämpfe - und vermeidet, unser heutiges historisches Bewusstsein zum Kriterium der Bewertung zu machen. Deutlich wird, dass Fronten im Bürgerkrieg nicht eindeutig verlaufen. Und auch, dass Gewalt nicht Gegenteil, sondern Produkt der Moderne ist. Traverso betont, dass die moralische Verurteilung der Gewalt nicht ihre Analyse und Interpretation ersetzt. Er richtet daher sein Hauptaugenmerk auf die Täter und verweist darauf, dass deren Perspektive als Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts verloren geht, wenn man sich aus "posttotalitärer Empfindsamkeit" vorwiegend um eine Bewertung des Geschehenen aus Sichtweise der Opfer bemüht.
Traversos Studie schafft einen Kontext, in dem Faschismus und Widerstand, Heldentum und Angst, Aufklärung und Gewalt so miteinander in Bezug gesetzt werden, dass ein tieferes Verständnis der Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1914 und 1945 möglich wird.
Rezensiert von Carsten Hueck
Enzo Traverso: "Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 - 1945"
Aus dem Französischen von Michael Bayer.
Siedler, München 2008, 399 Seiten, 24,95 EUR