Fakten, Fiktion und Fake
Schwert und Schild, Krone und Kreuz, Schwarz und Weiß: Der historische Roman erzählt unter den Bedingungen reduzierter Komplexität und ist unserer Gegenwart meist näher als der Vergangenheit. Ein Essay von Michael Schikowski.
Der historische Roman entstand als neue europäische Gattung am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Als sein Erfinder gilt Sir Walter Scott. Scott hat bereits bei seinem ersten großen europäischen Erfolg "Waverley" gezeigt, wie man dem historischen Roman ein notwendiges, aber gewiss ahistorisches Element einfügt: den mittleren Helden. Der mittlere Held ist nicht allein unterbestimmt, er ist vor allem nicht so von den Zeitläuften bestimmt wie die Typen und Charaktere, die ihn sonst so umgeben. Damit ist er uns nicht fremd, und wir können uns mit ihm identifizieren.
Während man in Europa Walter Scotts "Ivanhoe", Victor Hugos "Glöckner", Alexandre Dumas' "Musketiere" und Manzonis "Verlobte" liest, muss man sich in Deutschland zunächst mit Willibald Alexis begnügen, der mit dem vaterländischen Roman "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" den Untergang Preußens in den napoleonischen Kriegen erzählt. Das kommt alles über die Kragenweite der deutschen Leser kaum hinaus, auch deshalb, weil Alexis den nur schwach charakterisierten Helden im Sinne Scotts in ein historisches Gesellschaftspanorama integriert, in dem, wie ein zeitgenössischer Literaturkritiker schrieb, eigentlich alle Figuren "nur den Eindruck von Nebenpersonen machen". Eine Beobachtung, die gar so weit weg ist vom wunderbar-langweiligen historische Roman Theodor Fontanes: "Vor dem Sturm" von 1878.
Stimmen soll's schon noch
Der historische Roman ist in unserer Vorstellung an Schwert und Schild, an Degen und Mantel, an Krone und Kreuz gebunden. Man könnte auch sagen, an Schwarz und Weiß. Ein Grund für seine Popularität heute mag sein, dass er die Vergangenheit stets unter den Bedingungen reduzierter Komplexität erzählt. Damit wäre dann auch erklärt, warum historische Romane, die im 19. Jahrhundert spielen, heute so selten sind. Das ist die Zeit, in der gesellschaftliche Komplexität eigentlich erfunden wurde. Außerdem: Das ist die Zeit, die durch die großen Erzähler wie Balzac, Dickens und Fontane bestens abgedeckt ist.
Das Verhältnis der Fakten und Fiktionen, von Authentizität und Imagination ist eine vertrackte Sache. Einerseits gilt es, die toten Fakten durch literarische Imagination lebendig werden zu lassen. Die Geschichte soll doch schließlich zum Sprechen gebracht werden. Andererseits aber müssen diese Fiktionen durch den Anschein von Authentizität abgesichert werden. Stimmen soll's schon noch.
In der Weimarer Republik und im Exil versuchen Autoren wie Stefan Zweig und Emil Ludwig, dann aber auch Werner Hegemann, Réné Fülöp-Miller, Hermann Kesten, Ludwig Marcuse, Lion Feuchtwanger, Wilhelm Herzog, Franz Blei, Franz Werfel, Klaus Mann und Valeriu Marcu einen neuen, einen besseren, einen eher liberalen und demokratischen oder, wo nötig, den Deutschen einen selbstkritischen und warnenden "fernen Spiegel" vorzuhalten. Diese politisch eher zur Mitte hin ausgerichtete Mischform, die mal eher Roman, mal eher Sachbuch war, die bei den Linken wie den Rechten entschieden als unentschieden abgelehnt wurde, taufte man auf den Namen "historische Belletristik".
Der Unterschied zwischen historischem Roman und historisch gewordenem Roman
Warum aber immer neue historische Romane entstehen, erklärt sich nun auch: Der historische Roman ist der Gegenwart viel näher als der ach so tiefen Vergangenheit. Und daher erkennen wir als Konsumenten allein das als historischen Roman, was unseren Vorstellungen entspricht. Ein wahrhaft historischer Roman wäre vermutlich unlesbar.
Zu den Fakten und Fiktionen kommt nun also auch der Fake hinzu. So sind die Werke von Umberto Eco, Noah Gordon, Ken Follett, Patrick Süskind und Donna Cross nur dann historische Romane für uns, wenn sie es an und für sich nicht sind. Diesen Romanen ging der Mittelalterboom der Wissenschaft in den 1980er-Jahren voraus, die sich vor allem für die rebellische Volkskultur, für die gesellschaftlich Marginalisierten, die Asozialen, die Bettler, Huren, Gaukler, Hexen und Henker interessierte.
Die Dialektik des Historischen lässt sich aber auch nutzen und zwar genau dann, wenn Romane historisch werden. Der Unterschied zwischen einem historischen Roman und einem historisch gewordenen Roman ist vielleicht ein neu einzuschätzender Lesereiz. Dazu eignen sich Wolf von Niebelschütz' "Der blaue Kammerherr" oder Albert Brachvogels "Friedemann Bach". Man blickt als Leser durch mehrere zeitgeschichtliche Ebenen. Von einem historisch gewordenen Text, seinem Alter, seiner Patina kann ein bestechender Reiz ausgehen, und sei er nur die lesesoziale Distinktion, die gelegentlich für Lyrik gilt: Das liest sonst kein Schwein!