Tschechien und seine Deutschen – was ist geblieben?
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75 Jahre nach der Vertreibung der Sudetendeutschen versucht eine neue Generation in Tschechien, das bislang verdrängte Thema ins Bewusstsein zu rücken. Auch unser Autor begibt sich in der Heimat seiner tschechischen Familie auf Spurensuche.
Bisher war Tschechien immer Tschechien und Deutschland immer Deutschland für unseren Autor gewesen. 75 Jahre nach der Vertreibung der Sudetendeutschen hat er sich auf Spurensuche begeben, um zu verstehen, wie das moderne Tschechien auf seine turbulente Geschichte blickt.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus den böhmischen Ländern ist bis heute ein Trauma für die Betroffenen und ihre Nachfahren. In dem Land, aus dem sie vertrieben wurden, hat man die Geschichte für Jahrzehnte verdrängt. Fast wurde sie aus dem nationalen Gedächtnis gestrichen.
Doch seit dem Ende des Realsozialismus versucht eine neue Generation, die deutsche Geschichte des Landes wieder ins nationale Bewusstsein zu rufen. Um zu erinnern, aber auch um zu verstehen, was die Vergangenheit für das heutige Tschechien bedeutet.
"Unsere Deutschen" – Erinnerung durch Kultur
In Ústí nad Labem, kurz hinter der sächsischen Grenze, entsteht die Ausstellung "Unsere Deutschen" (Tschechisch: "Naši Němci"), die den Museumsgästen die kontroverse tschechisch-deutsche Geschichte näherbringen möchte. Sie ist überhaupt die Erste ihrer Art in Tschechien.
Kurator und Historiker Petr Koura möchte damit auch die über das letzte Jahrhundert entstandenen Stereotype abbauen und einen "neuen" tschechischen Blick auf die Geschehnisse präsentieren.
In der Hauptstadt Prag leben Dokumentarfilmer David Vondráček und Schriftstellerin Kateřina Tučková. Mit ihren Werken haben sie dem Land die Brutalität der Nachkriegsjahre vor Augen geführt. Das war und ist immer noch Pionierarbeit. Sie wollen, dass das Land anfängt, sich auch mit den Schattenseiten der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Die Sudetendeutschen sollen wieder Teil der tschechischen Identität werden.
Schmerzhafte Versöhnung mit der Vergangenheit
"Wir versöhnen uns miteinander, aber auch uns selbst damit, was damals passiert ist", meint Jaroslav Ostrčilík, der Organisator des "Versöhnungsmarsches von Brünn" bei dem Einheimische und Vertriebene gemeinsam an die gewaltvolle Vertreibung der Brünner Deutschen gedenken.
Dabei stoßen die Teilnehmer*innen auch auf Widerstand – vor allem seitens der Generation, die die deutsche nationalsozialistische Gewalt noch erlebt hat.
Verlorene Vielfalt und neue Perspektiven
In Olomouc, der Heimatstadt der tschechischen Familie unseres Autors, lebt Michal Urban, der mit seinem Verein "Antikomplex" an die verlorene sprachliche und ethnische Vielfalt erinnert – auch, um den Rassismus in der modernen tschechischen Gesellschaft zu bekämpfen.
Zum Abschluss besucht Jonas Lüth das Wochenendhaus seiner Großeltern in Václavov und entdeckt das so bekannt geglaubte Dorf noch einmal neu. Die Bevölkerung wurde hier nach dem Krieg fast komplett ausgetauscht. Menschen aus Tschechien, aber auch aus der Slowakei und der Ukraine kamen, um das Dorf neu zu gestalten.
Milka, die hier geboren ist, hat den verfallenen, zugewucherten Friedhof, auf dem deutsche und tschechische Tote ruhen, wieder instand gesetzt, um den Verstorbenen ihre Würde zurückzugeben.
Der Beitrag im vollständigen Wortlaut
Die quietschende Tür gehört zu einem kleinen Friedhof, den ich kenne, seit ich denken kann. 30 Quadratmeter, vielleicht 40. Eingehegt von einer Backsteinmauer. In den ausgewaschenen Rillen zwischen den Backsteinen fanden wir als Kinder helfende Zettelchen für die Schatzsuchen, die unser Großvater für uns vorbereitet hatte.
Der kleine Friedhof liegt am Rande des Bergdorfes Václavov im nordmährischen Altvatergebirge in Tschechien. Hier haben meine Großeltern seit den 1960er-Jahren ein Wochenendhaus, in dem schon meine Mutter die freien Tage und Schulferien verbrachte.
In den 1980er-Jahren ist sie nach Westdeutschland ausgewandert. Dann kam die Wende und dann ich. Erst aus Hamburg, dann aus Berlin pendelten wir drei bis vier Mal im Jahr über Dresden, Prag und Olmütz, die Heimatstadt meiner Mutter, bis in das kleine, ziemlich ausgestorbene Bergdorf. Dabei war die tschechische Sprache immer Stützpfeiler meiner Beziehung zur dortigen Familie. Und natürlich auch zu meiner Mutter.
Als ich in Berlin auf die Oberschule ging, wurde der zugewucherte Friedhof in Václavov auf Vordermann gebracht. Das Tor ließ sich auf einmal öffnen, und das Innere war nicht mehr so gruselig. Auf den freigelegten Grabsteinen las ich: Bauer, Weigl, Pusch. Namen, die ganz und gar nicht tschechisch klangen.
Man hatte mir zwar erzählt, dass das Dorf früher ganz anders gewesen sei. Mit Schule und zwei Kneipen. Auch, dass es hier und da Deutsche gab. Aber so wirklich habe ich die Fäden erst auf dem Friedhof zusammenbringen können.
Die Hymne gab es auch auf Deutsch
Ich habe Tschechien immer als das Land eines Volkes mit einer klaren Grenze zu Deutschland, dem Land eines anderen Volkes, wahrgenommen. Mir war nicht klar, dass ethnische Nationalstaaten eine ziemlich neue Erfindung sind. Und dass in den Städten und Dörfern des heutigen Tschechiens jahrhundertelang beide Sprachen – Tschechisch und Deutsch – zu hören waren.
Sogar die Hymne des Landes wurde von 1918 bis 1938 auch in deutscher Übersetzung gesungen.
75 Jahre ist es jetzt her, dass die Deutschen aus Tschechien vertrieben wurden. Zuvor hatte das nationalsozialistische Deutschland die Tschechoslowakei sieben Jahre lang besetzt und mit Terror überzogen, bis die Rote Armee sie 1945 von der Wehrmacht befreite.
Wie meine Mutter erzählt, prägte die sowjetische Geschichtsschreibung die schulische Erziehung bis in die 1970er- und 80er-Jahre:
"Dann sind wir zu besonderen Anlässen immer ins Kino gegangen, wo wir ganz tolle russische Filme gesehen haben. Wo es ganz tolle russische Menschen und Soldaten, vor allem Soldaten gab. Und einfach ganz scheiße deutsche Soldaten. Ich kann seitdem das Wort 'Jawohl' nicht hören. Kriege ich Gänsehaut. Das war irgendwie, die gesamte Atmosphäre so, dass die Deutschen eigentlich ... Nee, geht gar nicht. Und es war völlig normal, dass die Vertreibung der Deutschen richtig war. Darüber hat keiner diskutiert. Das hat keiner infrage gestellt."
In Deutschland wird beim Thema Vertreibung verständlicherweise mit den Vertriebenen und über die Vertriebenen gesprochen. Aber wie ist das auf der anderen Seite? Was hat diese Vertreibung eigentlich mit Tschechien gemacht? Wie sah es vorher aus? Und wie schaut das Land heute, nach der Abwicklung des Realsozialismus, auf seine Vergangenheit?
Um diesen Fragen nachzugehen, bin ich, als irgendwie Deutscher, der irgendwie auch Tscheche ist, einmal quer durch das Land gefahren. Ich habe die Strecke gewählt, die ich drei, vier Mal im Jahr an mir vorbeifliegen sah – in Vorfreude auf die Ferien in Tschechien oder auf das heimische Berlin. Oft fuhren wir mit dem kleinen, klapprigen Auto meiner Großeltern die gesamte Strecke.
Meistens fuhr ich aber mit dem Zug, der ab Dresden gemächlich durch das Elbtal tuckert, um dann kurz nach der Grenze in der Stadt Ústí nad Labem, auf Deutsch Aussig an der Elbe, zu halten.
Hier, im Stadtmuseum, entsteht gerade eine Dauerausstellung mit dem Namen "Naši Němci" (Unsere Deutschen). Sie soll im Frühjahr 2021 eröffnet werden.
"Wir fangen im frühen Mittelalter an, wenn in die späteren böhmischen Länder die Germanen kamen. Es ist das 6. Jahrhundert nach Christi und wir enden bis zur Gegenwart. Letzte Exposition ist zum Thema: deutsch-tschechische Beziehungen nach 1989. Planmäßig ist es der tschechische Blick auf deutsch-tschechische Beziehungen und Geschichte der deutschen Bevölkerung in Tschechien", erklärt der 42-jährige Petr Koura.
Koura ist Historiker an der Prager Karls-Universität und hat die Ausstellung kuratiert. Sie wird unter anderem von der tschechischen Regierung und dem deutsch-tschechischen Zukunftsfonds finanziert, der 1997 mit der deutsch-tschechischen Erklärung entstanden ist. Hier versicherten beide Staaten, dass sie "ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden". Eine Grundvoraussetzung für den tschechischen EU-Beitritt.
Der historische Schwerpunkt der Ausstellung soll auf das 19. Jahrhundert mit seinem aufkommenden Nationalismus und dessen Folgen bis 1945 gelegt werden.
Böhmen, Mähren und ein kleiner Teil Schlesiens waren für Jahrhunderte Kronländer der österreichischen Habsburgermonarchie. Tür an Tür mit der tschechischen Mehrheitsbevölkerung lebte hier eine deutsche Minderheit. Die Tschechinnen und Tschechen, wie auch andere Völker, wurden vom deutschsprachigen Adel regiert. Die deutsche Sprache dominierte Politik, Verwaltung, Bildung, Kultur und Wirtschaft. In Schulen, Universitäten, Amtsstuben wurde ausschließlich Deutsch gesprochen. Das Tschechische war oft unterdrückt und überlebte nur als Alltagssprache.
Im 19. Jahrhundert erstarkte der tschechische Nationalismus als Befreiungskampf gegen die Übermacht aus Wien und errang einige Freiheiten. 1918 dann, am Ende des Ersten Weltkrieges, zerfiel die Donaumonarchie.
Der viel gefragte Petr Koura führt mich nach den Anstrengungen des Tages in seiner Muttersprache durch die Museumsbaustelle: "Und hier haben wir die Entstehung der Tschechoslowakei."
Von Wien abgeschnitten
Die erste tschechoslowakische Republik wurde gegründet. Unter großem Widerstand der deutschsprachigen Minderheit, die – von Wien abgeschnitten – immer noch 23 Prozent der Bevölkerung in der Tschechoslowakei stellte.
Die 65-prozentige tschechoslowakische Volksgruppe entstand durch eine Zwangsheirat zweier Völker, wobei der tschechische Teil den slowakischen für sich vereinnahmte und dirigierte. Auch ungarische, jüdische, polnische, Sinti-, Roma- und russinische Minderheiten gab es.
"Diese Tschechoslowakei, das war ein Vielvölkerstaat! Die Probleme begannen mit der Wirtschaftskrise, die eine Verschlechterung der sozialen Situation der Deutschen mit sich brachte. Die Deutschen lebten im Grenzgebiet, das auf Leichtindustrie spezialisiert war. Gebrauchsgegenstände, die die Leute in einer Krise nicht kaufen. Sie hatten das Gefühl, dass die Prager Regierung ihnen nicht hilft, weil sie Deutsche sind und die Regierung tschechisch. Das hat die deutsch-tschechischen Beziehungen im Land verschlechtert, und die Deutschen haben die Lösung ihrer Probleme in der Henlein-Partei gesehen."
Der Hitler-Gefolgsmann Konrad Henlein aus Liberec, auf Deutsch Reichenberg, hatte mit dem Anschluss der Grenzregionen an das Deutsche Reich Politik gemacht und so mit seiner sudetendeutschen Partei bei den tschechoslowakischen Kommunalwahlen 1938 bis zu 90 Prozent der Stimmen der deutschen Minderheit erhalten. Ganz im Sinne Hitlers.
Im September 1938 folgte nach wachsenden militärischen Spannungen im Grenzgebiet und Kriegsdrohungen Nazideutschlands das Münchner Abkommen. Das Abkommen besiegelte den unfreiwilligen Abtritt der Sudetengebiete an das Deutsche Reich. Hunderttausende Tschechinnen und Tschechen mussten ins Landesinnere fliehen, bevor im März 1939 auch diese Gebiete – Hitler nannte sie nun abschätzig "Rest-Tschechei" – militärisch besetzt wurden und das "Protektorat Böhmen und Mähren" entstand.
Laut Koura forderte der Nazi-Terror im Land in den Folgejahren mehr als 300.000 Todesopfer. Darunter über 200.000 Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma, die dem deutschen Völkermord zum Opfer fielen. Bei Kriegsgewinn war geplant, die in das rassische Schema der Nazi-Ideologie passenden tschechischen Bevölkerungsteile "umzuvolken", sprich zu Deutschen zu machen. Die verbleibenden Menschen sollten deportiert oder ermordet werden. Doch es kam anders.
Im Mai 1945, in der ersten Rede nach seiner Rückkehr aus dem Exil, hatte der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš verkündet, dass das deutsche Volk wie ein "einziges, riesiges, menschliches Ungeheuer" erscheine. Daraufhin mussten etwa drei Millionen Sudetendeutsche ihre Heimat verlassen.
"Hier zeigen wir die sogenannten Beneš-Dekrete, durch die die Deutschen ihre Staatsbürgerschaft verloren. Sie durften 20, manchmal 30 Kilo mitnehmen. Also wurden die Leute vertrieben und haben uns hier ihre Sachen dagelassen."
Der letzte Raum der Ausstellung soll verdunkelt werden. Hier erwarten die Museumsgäste Videos von Erschießungen deutscher Zivilisten und Zivilistinnen durch Angehörige der tschechoslowakischen Revolutionsgarden in Prag. 20- bis 30.000 Opfer forderte die sogenannte "wilde Vertreibung".
Tschechische Verfehlungen reflektieren
Koura möchte die deutsche Gewalt nicht relativieren. Ihm liegt in seiner Ausstellung aber besonders die tschechische Reflexion tschechischer Verfehlungen am Herzen.
"Ich betrachte mich als Teil des tschechischen Volkes und mir gefällt nicht, dass wir so etwas getan haben. Ich bin Demokrat und glaube, dass man von einem ordentlichen Gericht verurteilt werden sollte. Man muss die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen. Und wenn man etwas Falsches gemacht hat, dann sollte man bestraft werden. Und nicht einfach so, ohne Prozess, ermordet wie 1945."
Neben den dunkelsten Seiten des Zusammenlebens werden auch mit Anekdoten gespickte Alltagsgegenstände gezeigt.
"Ich glaube, dass die Ausstellung Stereotype abbauen kann, die während des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Dass das alles Faschisten waren. Nazis, die die Vertreibung verdient hatten. Wir wollen zeigen, dass nicht alle so waren und dass die Spaltung in Tschechen, Deutsche und Juden eigentlich ein Produkt gerade dieser nationalsozialistischen Ideologie war."
Die deutschsprachige jüdische Minderheit zählte sich zumeist nicht zu den sogenannten Sudetendeutschen. Petr Koura aber rechnet diese Community, die fast komplett dem Holocaust zum Opfer fiel, in seiner Ausstellung "Unsere Deutschen" zu seinen, den tschechischen Deutschen. Die Prager Literaten Franz Kafka und Franz Werfel gehören dazu, genauso wie die aus Mähren stammenden Edmund Husserl und Sigmund Freud. Die jüdische Minderheit sei wichtiger Bestandteil des Landes gewesen, meint Koura. Er bemängelt, dass das neu eröffnete Sudetendeutsche Museum in München das nicht ausreichend abbilde.
Um dem Publikum des Ersten Tschechischen Fernsehens näherzubringen, wer so alles aus ihrem Land kommt, ist der Dokumentarfilmer David Vondráček mitsamt Filmteam zu Petr Koura ins Museum gekommen.
"Heinz Edelmann ist in Aussig an der Elbe geboren und 1945 vertrieben worden. Er ist weltbekannt, weil er der Zeichner eines der erfolgreichsten animierten Filme ist. Nämlich 'Yellow Submarine'. Niemand weiß, dass er hier geboren ist. Und dann hat mich noch fasziniert, dass im tschechischen nationalen Bewusstsein nur zwei Tschechen als Nobelpreisträger bekannt sind. Obwohl es eigentlich vier Weitere gibt. Zum Beispiel weiß fast niemand, dass Berta von Suttner den Friedensnobelpreis bekommen hat. Diese österreichische Pragerin war eine große Pazifistin und hat schon lange vor dessen Ausbruch den Ersten Weltkrieg vorausgeahnt."
Vondráček, der sich seit 20 Jahren mit dem Erbe der Vertreibung beschäftigt, hat es heute eilig, und wir verabreden uns für ein Treffen in Prag.
Ich bleibe noch eine Weile in Ústí, im Grenzgebiet, dem Sudetenland, das sich für die meisten Menschen in Tschechien stark vom Landesinneren unterscheidet. Die heutige Eigenbezeichnung Sudetendeutsche entstand im 19. Jahrhundert. Sie ist abgeleitet von den Sudeten, einem Gebirgszug im Norden der heutigen Tschechischen Republik, der früher vor allem deutsch besiedelt war.
Das Grenzgebiet hat einen schlechten Ruf
Sudetenland bedeutet heute aber keine geografische oder administrative Einheit. Sondern "Pohraničí", das Grenzgebiet, das alle Gegenden umfasst, die 1945 von einer deutschen Mehrheit besiedelt waren. Diesen Regionen, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Bevölkerung ausgetauscht wurde, eilt in Tschechien heute der Ruf voraus, arm und rückständig zu sein. Höchste Arbeitslosigkeit, niedrigster Bildungsgrad und niedrigste Wahlbeteiligung decken sich zum größten Teil mit den Gebieten der Vertriebenen.
Die Region um die Stadt Ustí nad Labem, in der die Ausstellung über die Deutschen entsteht, ist ein Paradebeispiel dafür. Auch hier brauchen die Wunden der Vergangenheit noch Zeit, um zu heilen. Für einige Gegenden haben sich aber neue Perspektiven ergeben, wie Kurator Koura berichtet:
"Die Tschechen haben in den 60er-Jahren einige Gegenden gerettet mit einem Phänomen: die Wochenendhäuser. Ich kenne einige deutsche Historiker und sie haben nicht ein Wochenendhaus. Die Tschechen haben Wochenendhäuser. Ich auch! Ich habe ein Haus, meine zwei Brüder haben auch Wochenendhäuser. Das waren zwei Faktoren. Freies Wochenende, bis in die 60er-Jahre war nur der Sonntag freier Tag und ab 60er-Jahre Samstag, also zwei freie Tage am Wochenende. Und der zweite Grund ist die Vertreibung der Deutschen. Weil im Grenzgebiet waren viele, viele freie Häuser."
Vor der Abfahrt meines Zuges in Ustí habe ich noch eine gute Stunde Zeit. In der Mitte der Edvard-Beneš-Brücke über die Elbe ist eine kleine, leicht zu übersehende Tafel angebracht, die an das Massaker von Aussig erinnert. Dabei wurden im Juli 1945 deutsche Männer, Frauen und Kinder ermordet und von der Brücke in die Elbe geworfen.
Die vorbeilaufenden Menschen, die ich nach der Bedeutung der Tafel frage, wissen, was passiert ist. Einmal im Jahr kämen Deutsche, um zusammen mit dem Bürgermeister der Opfer zu gedenken. Als klar wird, dass ich aus Berlin komme, freut sich eine Frau. Dann sei die Tafel ja für Leute wie mich!
Jetzt glaube ich, verstanden zu haben, was Petr Koura mit dem Begriff "Unsere Deutschen" und David Vondráček mit seinen sudetendeutschen Berühmtheiten erreichen wollen. Vielleicht ja, dass die Einheimischen in Zukunft die Tafel auf der Brücke auch als ihre Tafel verstehen.
Das Kaffeehaus Slavia in Prag wurde 1884 eröffnet. Der Name Slavia ist inspiriert durch den damals aufkommenden Panslawismus und das Aufbegehren gegen die österreichisch-ungarische Fremdherrschaft. Es befindet sich an prominenter Stelle: direkt gegenüber dem Nationaltheater am Ufer der Moldau.
Die Prager Rainer Maria Rilke, Jaroslav Seifert und Bedřich Smetana verkehrten hier. Später die tschechoslowakischen Dissidenten der 1970er-Jahre. Auch der Dokumentarfilmer David Vondráček hat das Kaffeehaus für unser Treffen ausgewählt.
"Ich komme aus der Gegend um Marienbad, Karlsbad, Franzensbad. Was bekannte Kurorte sind, die früher deutschsprachig waren. Wenn ich Kollegen treffe, die sich auch für die tschechisch-deutsche Geschichte interessieren, dann kommen sie oft aus solchen Gegenden wie ich. Oder jemand von den Großeltern war deutsch.
Bei mir ist das total paradox. Von beiden Seiten habe ich deutsche Großmütter. Eine davon ist Karpatendeutsche, die 1938 meinen Opa geheiratet hat. Einen Tschechen, der in der Slowakei gearbeitet hatte und dann nach dem Krieg mit ihr zusammen das Sudetenland besiedeln kam. Sie haben da sogar noch mit der ausgesiedelten deutschen Familie für ein halbes Jahr zusammengewohnt, bevor diese dann gehen musste."
Deutsche, die tschechische Ehepartner oder Ehepartnerinnen hatten, waren von der Vertreibung ausgenommen und durften bleiben. So auch Antifaschist*innen. Dazu Fachkräfte, die dringend benötigt wurden. Die meisten Nachfahren der Verbliebenen haben sich assimiliert. Eine kleine deutsche Minderheit lebt aber bis heute hier.
"Ungefähr 100.000 tschechisch-deutsche Ehen gab es damals. Diese Völker haben bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zusammengehört."
100.000?, wundere ich mich. Das heißt ja, das meine eigene deutsch-tschechische Kleinfamilie bis vor kurzer Zeit überhaupt nichts Besonderes gewesen wäre.
David Vondráček fing früh an, sich für die Geschichte seiner Heimat zu interessieren: "Schon seit der Kindheit habe ich Architektur gemocht. Die riesige Verwüstung der Kulturdenkmäler sprang mir schon damals ins Auge. Das heißt, deutsche Friedhöfe, deren Grabsteine zum Hausbau verwendet wurden, Häuser, die verfallen, ganze zerstörte Dörfer. Erst später habe ich dann erfahren, dass zweieinhalbtausend Orte ganz verschwunden sind."
Seine persönliche Geschichte führte ihn dazu, sich intensiv mit dem deutschen Erbe in Tschechien zu beschäftigen. 2010 erschien sein wohl bekanntester Film "Zabijení po Česku" (Töten auf Tschechisch), in dem Vondráček unter anderem Videos von Erschießungen der deutschen Zivilbevölkerung nach der Befreiung zeigte. Der Film erregte großes Aufsehen in Tschechien, wurde aber erstaunlich positiv aufgenommen.
"In den 90er-Jahren gab es eine große Angst, dass die Deutschen zurückkommen und die Menschen aus ihren Häusern vertreiben. Das hat bis 2010 aber deutlich abgenommen. Zu der Zeit überwog in der jüngeren Generation schon das Interesse dafür, was nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist. Meine Filme wurden wirklich nur noch von rechtsnationalen Populisten und radikalen Kommunisten kritisiert. Inzwischen kann man darüber drehen und schreiben, was man will. Aber in allen Einzelheiten interessiert das wirklich nur eine kleine nachdenkliche Minderheit."
Gerade diese Minderheit, die Vondráček meint, versucht in den letzten zehn bis 15 Jahren, durch Filme, Bücher und Ausstellungen ein Bewusstsein zu schaffen, das lange feststehende Kategorien von Gut und Böse in der tschechischen Geschichte infrage stellt.
Kollaborateure wurden erneut zu Henkern
Seit Herbst läuft in Prag der Kinofilm "Krajina ve stínu" (Landschaft im Schatten) des Regisseurs Bohdan Sláma. Inspiriert von den Ereignissen im südböhmischen Dorf Tust erzählt der Schwarz-weiß-Film die Geschichte der Dorfbevölkerung.
Deutsche Besatzung, Kollaboration und Denunziation, die Gräueltaten von SS und Gestapo sowie die Deportation einer angesehenen jüdischen Familie werden gezeigt. Nach der Befreiung wendet sich das Blatt. Einige tschechische Kollaborateure wechseln die Seiten und werden erneut zu Henkern. Der tragische Held der Geschichte ist ein tschechischer Widerstandskämpfer, dessen Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Nach seiner Rückkehr aus dem KZ macht er sich mitverantwortlich für die Folter und die Erschießungen von Dutzenden Schuldigen und Unschuldigen. Deutsche und tschechische Sprache verschwimmen, genauso wie die Grenze zwischen Täter*innen und Opfern.
Tonda und Bara sind Mitte 20. Sie haben zufällig Premierenkarten erhalten, interessierten sich bis jetzt aber nicht speziell für das Thema.
"Meiner Meinung nach gehört das bestimmt auch zur Geschichte, aber es ist auch schon echt lange her. Vielleicht ist das was, worüber man zu wenig spricht. Wir haben eben auf dem Weg nach draußen darüber geredet, dass die Vertreibung eher so ein Randthema ist."
Tonda meint, dass man es oft einfach so hinnehme. Nach dem Motto: Das ist halt passiert. "Ich glaube, es ist Zeit, das stärker zu thematisieren. Jetzt war eben gerade der Kommunismus, das ist einfach aktueller. Aber es ist wohl auch schwieriger, über die Vertreibung zu reden, weil, na ja, das nationale Ethos dabei echt nicht besonders gut wegkommt."
Auch für Bara ist der Kommunismus ein emotionaleres Thema: "Ich habe eigentlich keine Vorurteile gegenüber bestimmten Volksgruppen. Aber wenn ich Russisch höre, dann kriege ich so eine innere Angst – ohne Grund. Das habe ich wahrscheinlich von der vorherigen Generation übernommen. Da ist so ein gewisses 'Was wäre, wenn das noch mal passiert'."
Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts als Reaktion auf den Prager Frühling 1968 ist für die Nachkriegsgeneration ein tiefes Trauma. Das sowjetische Militär blieb sogar noch nach der Wende bis ins Jahr 1991 in der Tschechoslowakei stationiert.
Auch ich habe die sowjetische Okkupation immer als nationale Katastrophe wahrgenommen.
Der tschechische Liedermacher Karel Kryl schrieb in der Nacht nach dem Einmarsch 1968 ein herzzerreißendes Lied. Meiner Mutter kamen oft die Tränen, als wir die Schallplatte zu Hause gehört haben. Komischerweise bekomme ich selbst auch einen Kloß im Hals, sobald die Melodie erklingt.
"Der Wolf hat Appetit auf das Lämmchen bekommen. Brüderchen, verschließe die Tür", singt Karel Kryl, der kurze Zeit später in der Bundesrepublik Asyl erhielt.
Widerstandslieder gegen die Nationalsozialisten kenne ich nicht. Natürlich nicht. Meine Mutter hat den Zweiten Weltkrieg ja nicht erlebt. Trotzdem hat sie Bilder von den Sudetendeutschen in sich, die von der älteren Generation geprägt sind.
"Ich erinnere mich an das Gefühl, dass wenn diese Sache angesprochen wird. Dass diese Emotionen, wo du denkst, die sind nicht mehr da, die kommen hoch und du sagst: Was wollen die denn? Die sind doch selbst schuld gewesen. Und du denkst. Moment mal. Hallo?! Das hast du doch eigentlich intellektuell für dich schon alles geklärt. Und diese Emotion ist trotzdem da. Ich glaube, es gibt unheimlich viele Emotionen, die in deiner Kindheit und Jugend sehr heftig als selbstverständlich gesät wurden. Es ist egal, ob du denkst, du hast die überwunden, dann sind da immer noch Schichten, die ansprechbar sind."
Ihr Vater, mein Großvater, ist im Jahr 1933 geboren und hat beide Regime erlebt.
"Für uns haben die Russen die Befreiung bedeutet. Wirklich! Wir haben das so gefühlt! Die Jahre der deutschen Okkupation waren harte Jahre. Viel, viel härter als die gesamte kommunistische Zeit. Das war zwar eine schlechte Zeit, aber lange nicht so drastisch wie die sechs Jahre Protektorat."
Wie ein Tabu entstand
Trotzdem überlagert die Aufarbeitung des Kommunismus oft die Traumata des Zweiten Weltkriegs und die Aufarbeitung der Vertreibung. Jede Generation gibt ihren Teil dazu, hat willkürliche Staatsgewalt erlebt.
Bis 1989 gab es vor allem eine Erzählung der Geschichte, von der kommunistischen Führung geprägt: Die Vertreibung war richtig. Die Deutschen weg. Die Bösen in der BRD, die Widerstandskämpfer in der DDR. Und damit Schluss mit der Diskussion. Ein Tabu entstand. Und so geriet vieles in Vergessenheit. Vor allem für die junge Generation. Sie ist die Erste, bei der das 20. Jahrhundert wenig direkte Narben hinterlassen hat. Die Schriftstellerin Kateřina Tučková, die 1980 geboren ist, gehört dazu.
Ich treffe Tučková in Prag, wo sie inzwischen wohnt. Eigentlich kommt sie aber aus Südmähren, aus der zweitgrößten tschechischen Stadt Brno, die auf Deutsch Brünn heißt.
"Als ich während meines Studiums in Brünn in das Viertel gezogen bin, in dem die Brünner Deutschen gewohnt hatten, war die Entdeckung dieses verborgenen Kapitels der lokalen Geschichte sehr neu für mich. Nicht einmal meine Großeltern und Eltern haben darüber gesprochen. Das war einfach kein Thema. Auch nicht im Geschichtsunterricht in der Schule. Als ich dann in dieses Haus gezogen bin und auf dem Nachhauseweg immer an der Aufschrift vorbeikam: Mährische Glas- und Spiegelindustrie, war das ein Schock. Ich habe versucht, von den Einheimischen zu erfahren, warum da auf der Fassade etwas auf Deutsch steht. Und Stück für Stück habe ich durch solche Fragen herausgefunden, dass da Deutsche gelebt hatten, dass da Deutsche, Juden und Tschechen gemeinsam gelebt hatten."
Die Schriftstellerin haben diese Entdeckungen zu ihrem ersten, 2009 veröffentlichten Roman inspiriert: Unter dem Namen "Gerta. Ein deutsches Mädchen" ist er inzwischen auch auf Deutsch erschienen. Vater Deutscher, Mutter Tschechin, wächst die Heldin des Romans im Brünn der 1930er- und 40er-Jahre auf.
Als die Rote Armee Ende April 1945 die Stadt einnimmt und die Tschechoslowakei von der Wehrmacht befreit, muss die 21-jährige Gerta mit ihrem Neugeborenen und Zehntausenden anderen Deutschen die Stadt verlassen. Dabei erfährt sie schlimmste körperliche und psychische Gewalt.
"Ihr Schicksal hat mich so berührt, weil ich genauso alt wie Gerta war, als ich den Roman schrieb. Ich habe ihre Briefe gelesen und fand es schrecklich, dass ein Mensch in diesem Alter für etwas büßen musste, was er überhaupt nicht verbrochen hat. Das war damals einfach Weltgeschichte. Und so eine Frau war gezwungen, ihre Wohnung, ihre Stadt, ihre Heimat zu verlassen – wie ein Mensch zweiter Klasse."
Auf ihren Lesungen wurde Tučková oft mit Menschen konfrontiert, die ihren Ansatz nicht verstehen.
"Die ältere Generation kam zu meinen Lesungen vor allem, um mir ihre Position als Zeitzeugen zu schildern. Manche wollten sich auch streiten, weil ich die Perspektive eines deutsch-tschechischen Mädchens eingenommen und mich damit für die Seite der Vertriebenen starkgemacht habe. Es gab aber auch Zeitzeugen, die sehr großzügig im Verzeihen waren. Beide Seiten haben bei den Lesungen ihre Erfahrungen miteinander geteilt, das Problem offen angesprochen und dadurch auch viel Last abgebaut. Das war eigentlich wie eine Gruppentherapie."
"Es wäre falsch, sich nur als Opfer zu sehen"
Tučková meint, dass ihre Generation nun anders mit dem Thema umgehen könne, weil sie die Schmerzen nicht erlebt hat. Es sei auch eine Chance für das nationale Selbstverständnis Tschechiens.
"Zusammen mit den vertriebenen Menschen wurde auch das Thema Vertreibung aus dem Bewusstsein der tschechischen Bevölkerung verdrängt. Als ob es uns nicht betreffen würde. Ich halte das für einen großen Fehler, weil wir uns so Illusionen über uns als Volk machen können, die nicht stimmen. Es wäre falsch, sich nur als Opfer zu sehen."
Das Interesse für das Thema sei bei den Jungen zwar gering. Sie merke aber bei Auftritten in Schulen, dass eine große Offenheit da ist. Das hänge auch mit der Öffnung des Landes nach 1989 zusammen.
"Deutsche, Russen, Franzosen. Da machen wir keinen Unterschied. Die russische Okkupation und der Zweite Weltkrieg sind nur noch eine Nuance. Durch die Öffnung der Grenzen haben wir Erfahrungen mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern und auch mit ihren Kulturen."
Sich kennenlernen, die andere Position verstehen, um Grenzen abzubauen – auch im Kopf. Das ist das Konzept des "Versöhnungsmarsches von Brünn", den Kateřina Tučková Mitte der 2000er-Jahre mitbegründet hat und der an den sogenannten "Todesmarsch von Brünn" erinnern soll. Gerta, die junge Frau aus Tučkovás Roman, hat genau bei diesem Marsch mitlaufen müssen. Wie die Erinnerung an das Ereignis aussieht, schaue ich mir in Brünn an. Dafür geht es von der Hauptstadt Prag nach Südmähren, in den Südosten des Landes.
"In der Nacht vom 31. Mai 1945 sind ungefähr 27.000 Menschen Richtung österreichische Grenze getrieben worden. Das waren Kinder und junge Menschen bis 16. Männer und Frauen über 65 und Frauen allgemein. Männer im arbeitsfähigen Alter mussten in Brünn noch den ganzen Sommer bleiben. Und diese 27.000 Menschen sind ungefähr 32 Kilometer Richtung Österreich getrieben worden. Der Marsch hat ein vorläufiges Ende genommen in einem Städtchen Namens Pohořelice auf halbem Wege zur österreichischen Grenze. Und wir erinnern an diesen Todesmarsch, indem wir diese Strecke nachgehen."
... erzählt der Organisator des Marsches Jaroslav Ostrčilík. Er ist als Kind tschechischer Eltern in Österreich aufgewachsen. Kurz hinter der tschechischen Grenze, dort, wo viele Vertriebene aus Brünn nach 1945 eine neue Heimat gefunden haben. Der heute 37-Jährige kam nach Brünn, um zu studieren, und lebt seitdem in Tschechien.
Er erklärt, was ihn damals motiviert hat, den Marsch ins Leben zu rufen: "Das kanns doch nicht sein, dass ein Viertel, wenn nicht ein Drittel der Stadt innerhalb weniger Monate verschwindet und mit diesen Leuten nicht nur die zweite Sprache der Stadt, sondern auch so viele Geschichten und Erinnerungen. Und ja, damals vor 15 Jahren weiß kaum jemand etwas darüber. Und ich habe mir gedacht: Wie kann man das wieder zurück ins Bewusstsein der Leute bringen? Da lag es nah, diese 32 Kilometer physisch zu erleben."
Über die genauen Zahlen und das Ausmaß der Gewalt beim sogenannten Todesmarsch wird viel gestritten. Zwischen 1.000 und 5.000 Menschen sollen dabei umgekommen sein. An den Folgen körperlicher Gewalt, Erschöpfung und vor allem an Krankheiten, die wegen der schlechten hygienischen Zustände im Zwischenlager in Pohořelice ausgebrochen waren.
Dort, wo das Zwischenlager war und laut Denkmal 890 Opfer bestattet sind, hat sich eine bunte Menge von etwa 150 bis 200 Menschen versammelt. An diesem ungewöhnlich heißen Tag erinnert der Bürgermeister von Pohořelice auf einer Wiese umgeben von Maisfeldern an die Geschehnisse von damals. Zwei Priester laden zum zweisprachigen Gebet.
"Wir versöhnen uns miteinander, aber auch uns selbst damit, was damals passiert ist. Das, finde ich, bringt die Gesellschaft viel weiter Richtung Europäertum."
Zu den Klängen von John Lennons "Imagine" stimmen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Tschechien, Österreich, Deutschland und der Slowakei auf den Marsch ein.
Gemeinsame Bewältigung des Unrechts
In einem Café im Ortskern von Pohořelice treffe ich zufällig den stellvertretenden Bürgermeister Josef Svoboda, der nicht mitläuft. Er versteht die Notwendigkeit einer Entschuldigung und die heutige gemeinsame Bewältigung des Unrechts, aber:
"Natürlich ist das in einem gewissen historischen Moment passiert. Nach sechs Jahren Protektorat waren die Leute natürlich wütend und haben sich nur zu gern gerächt." Er würde sich aber über mehr Ausgeglichenheit freuen: "Die Erinnerung an tschechische Opfer des deutschen Protektorats sollte größer sein. Das machen eher nur Politiker. Ich befürchte, dass das unserem Volk ein bisschen fehlt. Stolz und Erinnerung an die Opfer."
15 bis 20 Einheimische aus Pohořelice habe er in der Menge gesehen.
"Viele Menschen sind hier erst nach dem Krieg hergekommen. Das heißt, dass sie auch das Zusammenleben mit den Deutschen nicht kannten und deswegen ist das nicht so ein wichtiges Thema. Aber es passierte schon, dass hier Leute durchkamen, die sagten: Hier haben wir gewohnt! Da haben manche natürlich Angst bekommen, dass sie das Grundstück verlieren, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit gutem Gewissen und auf Geheiß der Regierung besiedelt haben. Der jungen Generation hier ist es aber eher egal."
Auch in unserem Wochenendhaus ist in den 1980er-Jahren mal jemand aus Deutschland vorbeigekommen, erzählt meine Großmutter.
"Der Besitzer ist Weber gewesen. Er selbst war schon sehr krank und so hat er seinen Neffen gebeten, zu seinem ehemaligen Wohnort zu fahren, um zu schauen, wie es dort aussieht. Er hatte früher mit einem Webstuhl gearbeitet. Und tatsächlich hatten wir den Webstuhl noch auf dem Dachboden. Der Neffe natürlich sehr froh, als er den entdeckt hat, und er hat sich ein Teil davon als Erinnerungsstück mitgenommen."
Immer wieder höre ich, dass so auch Freundschaften entstanden sind.
Inzwischen hat der Versöhnungsmarsch Brünn erreicht – nach 32 Kilometern in der prallen Sonne. Empfangen werden die überwiegend jungen Menschen von einer kleinen Gruppe, die Plakate in die Höhe hält.
"Sie wollen die junge Generation beeinflussen, die von der Geschichte nichts weiß, die glaubt, dass es bei solchen Märschen um irgendeine Versöhnung geht. Sie wollen aus Tschechen Täter und aus den Deutschen Opfer machen!"
... sagt eine Frau, die Zeitzeugin der nationalsozialistischen Besatzung ist und gegen den Versöhnungsmarsch protestiert, wie die anderen in der Gruppe auch.
"Warum schürt man hier Hass gegenüber der Sowjetunion?! Das stört mich unheimlich. Ich reiche meine Hand gerne einem Deutschen, Franzosen, Österreicher, aber ich mag es nicht, wenn Zwietracht zwischen Menschen gesät wird. Die Russen, das ist ein slawisches Volk. Das sind Menschen, die uns nahestehen. Verstehen Sie! Und hätte es die Rote Armee nicht gegeben, dann wären wir einfach nicht mehr hier!"
Die meisten Demonstrierenden sind weit über 60. Sie gehören der kommunistischen Partei KSČM an, die sich aus der früheren Einheitspartei KSČ entwickelt hat, als diese 1989 gestürzt wurde. Jiří Hráček, der die Gruppe anführt, hat die Wende als Kind erlebt. Er ist der Jüngste hier. "Sie ignorieren, dass die Sudetendeutschen die Republik zerstört und während des Krieges mit den Nazis kollaboriert haben. Sie sind an ihrer Vertreibung selbst schuld!" Und er fügt unmissverständlich hinzu: "Mit ihnen reden, das ist in Ordnung, aber dass wir uns dafür entschuldigen sollen, dass sie uns hier auslöschen wollten – das ist für mich inakzeptabel!"
Der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus
Jaroslav Ostrčilík, der Organisator des Brünner Versöhnungsmarsches, stellt sich entschieden gegen den Vorwurf des Geschichtsrevisionismus, der oft auch aus dem tschechischen rechten Lager kommt.
"Wir tun ja die Verbrechen der Nazis nicht und die Besatzungszeit auf keine Art und Weise irgendwie vermindern oder relativieren oder sonst etwas. Ambition ist, beides zu reflektieren: Die Verbrechen der Nazizeit und das, was gefolgt ist. Natürlich mit der Ambition, dass sich so etwas nie wieder wiederholt."
Trotzdem, meine ich, könnte diese Lesart der Geschichte deutschnationalen Kräften in die Hände spielen. Bei den Vertriebenen seien in der Tat einige Ewiggestrige engagiert gewesen. Aber das liege zehn bis 20 Jahre zurück, erklärt Ostrčilík.
"Mittlerweile ist die bundesdeutsche Vertriebenen-Community sehr progressiv in dem Sinne, dass sie sich lautstark für Hilfe aussprechen, dass man Flüchtlingen hilft, weil sie selbst einmal welche waren."
Zeiten ändern sich: Die Sudetendeutsche Landsmannschaft, der Vertriebenenverband der Sudetendeutschen in Deutschland, hat 2015 die Forderung nach einer "Wiedergewinnung der Heimat" aus ihrer Grundsatzerklärung gestrichen. Ein wichtiges Zeichen für die Versöhnung und auch eines dafür, dass die Debatte über die Vertreibung in eine neue, entspanntere Runde geht.
Doch was kann die neue Perspektive leisten? Um diese Frage zu klären, fahre ich nach Olmütz, auf Tschechisch Olomouc. Die mährische Studentenstadt ist nicht nur Heimat meiner tschechischen Familie, sondern auch Wohnsitz von Michal Urban. Der 28-Jährige engagiert sich beim Verein "Antikomplex".
"Der Verein wurde in den 90er-Jahren gegründet von Geschichtsstudenten in Prag, die das Gefühl hatten, dass es in der tschechischen Geschichte ein bestimmtes Tabu gibt, und das war eben die Geschichte der Vertreibung, über die nicht gesprochen wurde, aber das hat sich mittlerweile ganz geändert."
Mit Büchern, Ausstellungen und Theaterstücken versucht der Verein, den Menschen in Tschechien die Geschichte näherzubringen und damit gleichzeitig eine Brücke in die Gegenwart zu bauen. Auch, um mit dem Komplex, den die Gesellschaft mit der eigenen Vergangenheit hat, antirassistische Arbeit zu machen, um zum Beispiel Rassismus zu bekämpfen.
"Dieses Tabu war auch als ein Komplex zu begreifen. Also als eine Krankheit, die man von der Geschichte trägt. Dass drei Millionen Menschen weggehen mussten, dass das Schaden hinterlassen hat. Und das verbindet sich ziemlich gut auch mit dieser antirassistischen Arbeit. Man muss bedenken: Die Juden sind verschwunden, die haben die Nazis getötet, dann sind die Deutschen verschwunden, die wurden ja vertrieben und wer ist geblieben? Es ist ein relativ national-homogener Staat geblieben mit Menschen, die nicht bereit sind, etwas Buntes zu akzeptieren. Das sieht man bis heute. Mit Roma, die sind nicht wie die Mehrheitsgesellschaft. Die sind laut, die sitzen gerne draußen. Das sind alles so Sachen, die nicht so toleriert werden von der Mehrheitsgesellschaft. Weil einfach alle wie die Mehrheitsgesellschaft, also so wie die Tschechen, sein sollen."
Ohne überflüssige Emotionen den Verlust zeigen
In Michal Urbans Wohnung stapeln sich Bücher zum Thema. "Das bekannteste Projekt von Antikomplex war wahrscheinlich die Ausstellung 'Das verschwundene Sudetenland'. Das Buch wurde schon sieben Mal verlegt. Sobald das Thema beide Seiten interessiert, versuchen wir zweisprachig zu veröffentlichen. Die Stärke des Buches besteht darin, dass wir überlegt haben, wie man das Thema besprechen könnte, ohne politische Resonanz.
Wir wollten der Aufrechnung, wer was wem angetan hat, ausweichen. Man nimmt einfach die Bilder vor dem Krieg und die Bilder von 2004. Damit lässt sich auch ohne überflüssige Emotionen zeigen, was für ein Verlust das war."
Insgesamt wünscht sich Michal nach den Jahrzehnten des Schweigens nun eine offenere, gemeinsame Herangehensweise an die Geschichte und hätte dafür auch schon eine Idee:
"Es gibt ja in Deutschland ganz viele Heimatstuben, also das, was die Großeltern mitgebracht haben. Das wurde da aufbewahrt und das wurde erhalten und in Vitrinen ausgestellt und und und. Diese Dokumente, Bücher et cetera finden jetzt wenig Interesse bei der deutschen Gesellschaft, und es entsteht die Frage, was damit zu tun wäre. Meine logische Überlegung wäre, diese Gegenstände und quasi die Geschichte dieser Leute zurück in ihre Heimat zu bringen, weil da hat es Kontext, da könnte man damit noch etwas anfangen."
Das tschechische Interesse am Thema sei inzwischen groß, wie Michal auf Veranstaltungen merkt. Er stellt mich dem jungen Historiker Martin Hájek vor, um gemeinsam die Innenstadt von Olmütz unter die Lupe zu nehmen. Erste Station, die 35 Meter hohe barocke Dreifaltigkeitssäule aus dem 18. Jahrhundert. Nicht nur die höchste Pestsäule im ehemaligen Österreich-Ungarn, sondern seit 2000 auch Unesco-Weltkulturerbe. Michal erzählt.
"Die Baumeister hießen Wenzel Render, wenn man beim tschechischen Wikipedia schaut, dann ist das Václav Render. Später dann Philipp Sattler und später noch Ondřej Zahner oder Andreas Zahner. Zu dieser Zeit war es nicht klar oder nicht wichtig, ob sie Deutsche oder Tschechen waren, deswegen gibts auch dieses Spiel mit den Namen und sie haben sich als mährische Patrioten betrachtet, als wahrscheinlich Olmützer Patrioten."
Schon Kurator Petr Koura aus Aussig an der Elbe hatte mir erzählt, dass es oft überhaupt nicht einfach war, zu unterscheiden, zu welcher Volksgruppe die Menschen gehörten. Erst im 19. Jahrhundert wurde es zunehmend wichtiger. Zu Zeiten der ersten Tschechoslowakei war dann schon vieles getrennt, wie Martin Hájek zu berichten weiß:
"Ungefähr ein Viertel der Olmützer Bevölkerung waren Deutsche. Sie hatten eigene Kulturinstitutionen wie Theater und Schulen, aber auch eine eigene Vertretung im Rathaus, die mit den tschechischen Politikern zusammengearbeitet hat."
Neben dem Grenzgebiet gab es auch im Landesinneren, in Städten wie Brünn, Olmütz, Iglau, aber auch in Prag deutsche Sprachinseln in einer ansonsten tschechischen Umgebung.
Das Kulturzentrum der deutschen Minderheit
Am Rand der Altstadt steht ein Gebäude aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. "Slovanský Dům" – Das "Slawische Haus". Hier hat mein Großvater noch vor kurzem Puppentheater gespielt. Und auch die Abibälle meiner Cousins fanden in den Räumlichkeiten statt. Was ich bisher nicht wusste: Bis 1945 hieß dieses "Slawische Haus" "Deutsches Haus" und war Kulturzentrum der deutschen Minderheit.
"Im 19. Jahrhundert, als die Olmützer Deutschen an der Macht waren, haben sie es nicht für wichtig befunden, dieses Haus zu errichten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, als sie zur Minderheit wurden, haben sie es dann auch gebaut."
Auch ein "Tschechisches Haus" gibt es. Das wurde am Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, als die Machtverhältnisse noch zugunsten der deutschen Minderheit ausfielen. Solche Bauten zeugen vom Machtkampf der Volksgruppen. Und auch davon, dass das "friedliche Zusammenleben" zwar friedlich, aber wohl nicht immer ein "Zusammen" war.
"Man hat so eine Karte gehabt im Kopf, was welcher Nation gehört. Was für ein Gebiet, was für ein Revier man hat. Und wenn man sich treffen wollte, dann wusste man auch wohin."
Im ehemaligen "Deutschen Haus", in den Räumlichkeiten um den Haupteingang, hat sich inzwischen eine Billa-Filiale eingemietet. Die Ironie der Geschichte will es so. Billa ist eine österreichische Supermarktkette. Das Logo prangt direkt unter dem Schriftzug "Slawisches Haus". Ich frage mich, wer hier eigentlich gesiegt hat: Die tschechische Seite, die deutsch-österreichische oder der Kapitalismus?
Innerhalb von sieben Jahren, von 1938 bis 1945, wurde die über Jahrhunderte gewachsene ethnische und kulturelle Vielfalt in der Tschechoslowakei zerstört. Über diesen Verlust hat der Liedermacher Jaromír Nohavica 1996 ein Stück geschrieben, das von der nichts ahnenden, unbeschwerten Ruhe vor dem Sturm der zwei Weltkriege handelt.
Er hätte eine Polin geheiratet. Von irgendwo aus Lemberg. Im Haus des Juden Cohn hätten sie zusammengelebt. Sie hätte Polnisch gesprochen, ein bisschen Tschechisch und ein paar Worte Deutsch, singt Nohavica. Auch in Olmütz sprach man meist die Sprache der jeweils anderen Volksgruppe. Mein Opa, den ich eigentlich Děda nenne, erinnert sich vor allem an die Befreiung durch die Rote Armee. Und die Vertreibung?
"Ich habe überhaupt nicht wahrgenommen, dass es in Olmütz eine größere Anzahl an Leuten gab, die eine andere Sprache sprechen als wir. Als der Krieg zu Ende ging, war ich elfeinhalb Jahre alt. Ein kleiner Steppke. Also ist das alles ziemlich an mir vorbeigegangen. Meine Eltern haben darüber nicht vor uns gesprochen."
Wie hast du sie denn gesehen, die Deutschen? – "Ehrlich gesagt habe ich nie diesen Hass gespürt. Aber insgesamt war das bei den Leuten schon so. Meine Beziehung zu Deutschen oder Russen war für mich nicht so wichtig. Es ging eher gegen den Kommunismus."
In dem Dorf, das Václavov heißt und mal Wenzelsdorf hieß, im Altvatergebirge, das man hier heute nur Jeseníky nennt, steht unser Wochenendhaus. Meine Großeltern verbringen, seit sie in Rente sind, fast den gesamten Sommer hier. 22 Jahre, bevor sie das Haus gekauft haben, wurde im Dorf nur Deutsch gesprochen. Die gesamte Bevölkerung musste gehen. Oder durfte jemand bleiben?
"Nur die Dittrichs. Er war Deutscher und sie Tschechin. Deshalb durften sie bleiben. Er hat ziemlich schlecht Tschechisch gesprochen, konnte sich aber verständigen und hat sich immer gut mit allen im Dorf verstanden."
Meine Baba, also Oma, wird bald 88. Auch sie war zu jung, um sich an die Vertreibung selbst zu erinnern. Spurlos ist sie aber auch an ihrer Familie im Landesinneren nicht vorbeigegangen.
"Es wurde wohl dafür geworben, dass im Grenzgebiet umsonst gewohnt werden kann. Und mein Onkel hatte in unserem Heimatdorf echt keine schöne Bleibe. Na und dann ist er hierher gekommen. Daraufhin hat mein Vater zu ihm den Kontakt abgebrochen. Er fand das schrecklich. 'Da gehen nur Goldgräber hin' hat er immer gesagt."
Goldgräber. Zlatokopové. Das war ein Begriff, der damals viel benutzt wurde, für Leute, die ins Sudetenland zogen. Vor allem aber für diejenigen, die einfach nur kamen, um etwas mitzunehmen. Hunderttausende leere Häuser überall. Möbel. Kleidung. Küchenutensilien. Gratis.
Der Onkel meiner Oma aber zog ins Grenzgebiet, um dortzubleiben. Ein Zukunftsversprechen für Hunderttausende Menschen aus dem tschechischen Inland und aus der Slowakei. Auch tschechische und slowakische Minderheiten aus Polen, Rumänien und der Ukraine kamen. Sogar griechische und mazedonische Flüchtlinge. So homogen ist die heutige tschechische Bevölkerung also doch nicht.
"Der Pfarrer hat in der Kirche verlautbart, dass sich bei ihm melden könne, wer in die Tschechoslowakei ziehen möchte. Und dann ist das ganze Dorf ausgewandert."
Zuzug aus der mährischen Walachei
Die Familie, von der wir seit jeher mit Hühnereiern versorgt werden, ist 1946 aus den ukrainischen Karpaten nach Václavov gezogen. Überraschungen hält das Leben parat. Ich kenne sie, seit ich klein bin, doch nie kam mir in den Sinn, dass sie aus der Ukraine stammen könnten. Der 87-jährige Mann erzählt:
"Zu Hause haben wir ukrainisch gesprochen. Als wir hierherkamen, habe ich kein Tschechisch verstanden. Aber ein bisschen slowakisch, weil mein Vater Slowake war und meine Mutter Russinin, also Ukrainerin."
Mit dem Zug sind sie damals samt Vieh übersiedelt. Auch seine Frau stammt aus der Ukraine. Ihre Familie gehörte dort zur tschechischen Minderheit.
Hier im Dorf kamen die meisten aber aus einem einzigen Ort in der mährischen Walachei, wohin viele nach einigen Jahrzehnten wieder zurückgekehrt sind. Eine slowakische Familie gab es auch: Wir treffen die Nachbarin Milka. Jahrgang 1951, ist sie die einzige Einwohnerin des Dorfs, die hier auch geboren ist.
"Meine beiden Eltern kommen aus Terchova, aus der Slowakei. Mein Vater kam aus sehr armen Verhältnissen, deshalb ist er mit seiner ganzen Familie hier in die Häuser der Deutschen gezogen. Als die Vertreibung stattfand, da hat man händeringend nach Leuten gesucht, die die Felder bestellen. Meine Eltern waren Bauern und sind zuerst zusammen mit der Großfamilie 1945 ins Nachbardorf Tschemeschek gezogen. Das nannte man damals Klein-Slowakei. Fast das ganze Dorf war unsere Familie."
Ein Jahr später sind Milkas Eltern dann über den Berg nach Václavov umgezogen. Terchova, die slowakische Herkunftsstadt ihrer Familie, wurde von den Deutschen auf dem Rückzug niedergebrannt. Sie hegt aber keinen Groll.
"Ich kann niemanden verurteilen. So ist der Krieg. Wenn ich mir Filme anschaue, dann denke ich mir, dass das Schlechte auf beiden Seiten war. Das muss schlimm gewesen sein für die Deutschen. Das ganze Leben haben sie sich etwas aufgebaut, und dann durften sie nur 24 Kilo auf den Rücken schnallen und los. Wissen Sie, was das für die bedeutet haben muss?!"
Heute erlebt das Dorf einen zweiten Exodus. Diesmal ohne Gewalt. Die Familie aus der Ukraine und Milka sind zusammen mit einer anderen Familie die einzigen Alteingesessenen des Dorfes. Für viele hieß es nach ein paar Jahrzehnten: Zurück in die Heimat. Und die Kinder, die hier geboren sind? In die Städte abgewandert.
Auch mein Děda erlebt das: "Wie überall sind die Dörfer nicht gut versorgt. Das Leben in der Stadt ist angenehmer. Das Problem gibt es doch auch bei euch in Deutschland, oder?"
Aus Liebe zu dem Dörflein
Informiert über Veranstaltungen im nächsten Ort wird die Bevölkerung über Lautsprecher, die an den Strommasten angebracht sind. Eine Gaststätte gibt es ebenso wenig wie einen Laden. Die Rettung für das Dorf ist die Wochenendhauskultur. Und Milka: "Letztes Jahr haben wir hier die kleine Kapelle geweiht, die ich zusammen mit meinem Mann renoviert habe. Ich habe damit ein historisches Denkmal gerettet. Ich bin gläubige Katholikin. Aber eigentlich habe ich das aus Liebe zu meinem Dörflein gemacht. Ich habe ja hier das Licht der Welt erblickt."
Zwischenzeitlich war auch sie in die Heimat ihrer Eltern, die Slowakei, zurückgegangen. Aber sie kam wieder und hat dann bis zu ihrer Rente im Hotel am Dorfende, das kein Hotel mehr ist, die Zimmer gereinigt.
"Ich habe auch den Friedhof wiederhergestellt. Die Mutter von meinem Nachbarn Radek ist da begraben. Also sag ich zu ihm: Komm Radetschek. Wir bringen das in Ordnung! Alle wurden sie vergessen. Auch die ganzen Deutschen. Die Armen! Das sind doch keine Tiere."
Die meisten Leute im Dorf hätten sie dafür nur belächelt. Sie ist sich aber sicher, dass ihre Mühen eines Tages belohnt werden. So hat sie auch ihren Nachbarn Radek überzeugt.
"Ich hab' ihm gesagt: 'Wenn du mir hier hilfst, dann sieht das der liebe Gott und du wirst sehen: Eines Tages kommt es zurück.' Und es ist so passiert: Er hat eine tolle Frau und baut an seinem Haus."