Akten der Hitler-Regierung
Die Historische Kommission München hat den elften und letzten Band der Akten der Regierung Hitler vorgestellt. Er umfasst die Zeit von 1944 und 1945. © HiKo / Robert Brembeck
Das System funktionierte auch ohne Führer
07:25 Minuten
Wie genau hat die Regierung Hitler funktioniert? Das möchte der Historiker Hans Günter Hockerts mit den „Akten der Reichskanzlei“ offenlegen. Neben Hitlers Sicht auf die Ukraine erfahre man darin auch, wie gut der Staatsapparat funktioniert habe.
Wer bisher als Historikerin oder Journalist über die letzten Jahre von Hitler und der damaligen Reichsregierung forschen wollte, musste sich mühsam die Akten aus dem Bundesarchiv zukommen lassen.
Doch jetzt hat die Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften den letzten Band einer elfteiligen Reihe vorgelegt, in der man genau nachvollziehen kann, wie die Nationalsozialisten regiert haben. In diesem letzten Band geht es um die Jahre 1944 und 1945, also um das Ende des Nationalsozialismus.
470 "Führervorträge" zu Hitlers Unterrichtung
Der Historiker Hans Günter Hockerts ist Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat als Leiter der Kommission diesen letzten Band herausgegeben.
Eine Besonderheit der Reihe sind die „Führervorträge“, durch die Hitler, der das Aktenlesen nicht gemocht habe, in der Reichskanzler über die aktuellen Vorgänge unterrichtet worden sei, sagt Hockerts. In den Jahren zwischen 1933 und 1945 seien das insgesamt 470 Termine gewesen mit etwa 3800 Themen. Die Vorträge seien nicht geschlossen überliefert gewesen, deswegen verberge sich dahinter „eine große Recherchearbeit“.
Hitlers Sicht auf die Ukraine
Da Hitler alle Themen an sich gezogen habe, gehe es inhaltlich in diesen Vorträgen kreuz und quer. Aus aktueller Sicht erfahre man zum Beispiel Neues über Hitlers Sicht auf die Ukraine.
Zwar sei die Brutalität der deutschen Besatzungsherrschaft über die Ukraine schon bekannt gewesen, aber in den „Führervorträgen“ sei man erstmals auf neue Begriffe gestoßen, sagt Hockerts. Wie in einem Vortrag aus dem September 1941.
Darin werde klar, dass die Ukraine für Hitler nur ein „geographischer Begriff“ gewesen sei: „Er billigte den Ukrainern weder eine eigene Staatlichkeit noch eine nationale Identität zu“, sagt Hockerts.
Auf den Vorschlag des Ostministers, in Kiew eine Universität zu gründen, habe Hitler mit schroffer Ablehnung reagiert: „Der Chef der Reichskanzlei notierte: Das komme nicht in Frage. Es genüge, wenn die sogenannten Ukrainer lesen und schreiben lernen“, zitiert Hockerts aus den Akten.
NS-Bürokratie in Aktion
Insgesamt habe man in den Dokumenten präzisere und nuanciertere Begriffe und Entscheidungen gefunden, als bisher bekannt. Zwar könne man keine Sensationen bieten, aber durch die Fülle an Details und Argumentationsketten sei ein neuer Baustein der NS-Herrschaft sichtbar.
So zeige sich „die bürokratische Dimension der NS-Herrschaft in Aktion“, sagt Hockerts. Denn in den Akten gehe es nicht nur um Hitler: „Wir stellen fest, dass vieles ja auch ohne Hitler lief, an ihm vorbei lief. Ohne einen funktionierenden Staatsapparat wäre es mit der Führerherrschaft bald aus und vorbei gewesen.“
Diese Dimension der Staatlichkeit und die Kommunikation zwischen den Ministerien werde nun deutlicher und die Regierung mit ihren Netzwerken, Besprechungen und Personen in Aktion sichtbar.
Krisenmanagement ohne Hitler
Das System sei so eingespielt gewesen, dass es auch ohne Hitler funktioniert habe: „Die Staatssekretäre der wichtigsten Ministerien haben sich in den letzten Monaten komplett von Hitler abgekoppelt und in Eigenregie Krisenmanagement betrieben. Hitler war apathisch und und interessierte sich auch für nichts mehr, außer für bestimmte Kriegsvorgänge. Die Selbstaktivierung des Staatsapparates, das ist doch ein Akzent, der in dieser Deutlichkeit bislang nicht bekannt war“, sagt Hockerts.
Trotz seiner Abwesenheit seien alle Hitler treu geblieben und hätten sich dabei weiter auf angebliche "Führerweisungen" bezogen, die sie gar nicht erhalten hatten.
Die elf Bände mit insgesamt 12.000 Seiten sind laut Hockerts ein „Basislager der zeithistorischen Forschung“ und funktionieren als „Navigator in den Aktenmassen der Ministerialbürokratie“.