Hochbegabt per Dekret
Schüler müssen heute von ihren Eltern "intensiv nachbeschult" werden, sonst bleiben sie hinter den Leistungen zurück. Das "home schooling" ist fest eingeplant. Und was früher nur Hochbegabten vorbehalten bliebt - zwölf Schuljahre - gilt nun für alle.
Inzwischen ist es mir klar: Ich hatte keine besonders fürsorglichen Eltern. Anstatt mit mir ein- bis anderthalb Stunden Hausaufgaben zu machen, Klassenarbeiten oder Kurzkontrollen vorzubereiten, kleine Mathe- oder Grammatik-Repetitorien durchzuführen oder auch mal ein allgemeines Schulcoaching anzusetzen, haben sie mich einfach - spielen lassen!
Jetzt, da ich selbst eine Tochter habe, die soeben elf geworden ist und in die fünfte Klasse geht, kann ich es kaum noch fassen, dass es so war. Aber zugegeben: damals, also vor rund 40 Jahren, liefen die Dinge ja in vielerlei Hinsicht anders. Es gab noch keine regelmäßigen PISA-Studien, die unserem Land regelmäßig schreiende Bildungsdefizite bescheinigt hätten, für das Abitur hatten wir noch dreizehn Schuljahre Zeit, und außerdem kam zu den klassischen Schulstunden nicht noch eine ansehnliche Terminsammlung von Wahlunterrichtsfächern, Profilfächern und AGs hinzu.
Schule - wir wissen es alle - ist ein ständiges Reformprojekt. Und natürlich ist es richtig: So wie es vor vierzig Jahren war, kann es heute nicht mehr sein. Soll es auch nicht. Aber trotzdem muss man sich immer wieder fragen, was denn durch die Reformen der vergangenen Jahre nun eigentlich erreicht worden ist.
Es ist ja durchaus so, dass es auch früher bereits möglich war, das Abitur nach zwölf Jahren zu machen. Schüler, denen es mit der Bildungsvermittlung zu langsam ging, konnten eine Klasse überspringen. Und in Berlin gab es für solche Schüler sogenannte Schnellläuferklassen, in denen der Gymnasialstoff von neun auf acht Jahre verdichtet wurde.
Dagegen war nie etwas einzuwenden. Doch wie ist es jetzt? Da - wie allenthalben betont wird - die Qualität des Abiturs durch die Verkürzung auf insgesamt zwölf Schuljahre nicht gemindert wird, werden logischerweise alle Schüler gleichsam zwangsverschnellläufert. Alle sind nun also per Dekret hochbegabt. Das nenne ich doch mal erfolgreiche Politik! Klammer auf: Wobei ich an dieser Stelle nicht die Frage diskutieren möchte, um was für Begabungen es hier geht und dass es zahllose andere und oft nicht weniger hohe Begabungen gibt, die in der Schule lediglich nicht abgefragt werden - Klammer zu.
Wie auch immer - alle Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter wissen es: Bis auf wenige Ausnahmen ist die von den Schülern erwartete Leistung ohne eine intensive Nachbeschulung zu Hause nicht zu erreichen. Unsere staatlichen Schulen haben also definitiv den Anspruch aufgegeben, gleichsam aus sich selbst heraus den wesentlichen Anteil der Bildungsarbeit an der jungen Generation zu leisten. Die häusliche Nachbeschulung, das partielle home-schooling, ist sozusagen fest im System implementiert.
Und was das bedeutet, ist sofort klar: Diejenigen Kinder, die aus Familien und Schichten stammen, die diese Nachbeschulungsleistung entweder privat erbringen können oder über die nötigen Mittel verfügen, diese zu kaufen, werden das System letztendlich mit Erfolg durchlaufen. Zwar sind dabei wahrscheinlich alle unzufrieden: die Schüler, die Eltern, die Lehrer - aber die Sache wird alles in allem irgendwie funktionieren.
Die Kinder aber, die aus den sogenannten bildungsfernen Schichten stammen, werden noch brutaler und radikaler auf der Strecke bleiben, als es früher schon der Fall war. Die ganze schulpolitische PISA-Hysterie hat also den vollkommen gegenteiligen Effekt von dem, was PISA uns als Defizit eigentlich bescheinigt. PISA sagt nämlich gerade nicht, dass wir ausschließlich un- oder zu wenig gebildete Kinder haben. Was PISA festgestellt hat und immer wieder feststellt, ist, dass es bei uns eine krasse Spaltung der Gesellschaft in Gebildete und Ungebildete gibt, so krass wie in kaum einem anderen Land.
Eine Politik, die die zu erbringende Bildungsleistung gezielt in die Familien abschiebt, ist daher die schlechteste Bildungspolitik überhaupt. Sie macht die Bildungsfernen noch bildungsferner und alle anderen unzufriedener und resignierter.
Und die Konsequenz davon ist ebenso klar: Wenn die Bildung der eigenen Kinder sowieso schon eine Sache des privaten Engagements ist, dann doch bitte richtig: dann hinein in die privaten Schulen mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten und Freiheiten in der Gestaltung der Bildungsvermittlung.
Nein, es soll nicht mehr so sein wie vor vierzig Jahren. Aber die zunehmende Abwanderung aus dem staatlichen Bildungssystem, wie es jetzt ist, muss einen wirklich nicht wundern.
Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".
Jetzt, da ich selbst eine Tochter habe, die soeben elf geworden ist und in die fünfte Klasse geht, kann ich es kaum noch fassen, dass es so war. Aber zugegeben: damals, also vor rund 40 Jahren, liefen die Dinge ja in vielerlei Hinsicht anders. Es gab noch keine regelmäßigen PISA-Studien, die unserem Land regelmäßig schreiende Bildungsdefizite bescheinigt hätten, für das Abitur hatten wir noch dreizehn Schuljahre Zeit, und außerdem kam zu den klassischen Schulstunden nicht noch eine ansehnliche Terminsammlung von Wahlunterrichtsfächern, Profilfächern und AGs hinzu.
Schule - wir wissen es alle - ist ein ständiges Reformprojekt. Und natürlich ist es richtig: So wie es vor vierzig Jahren war, kann es heute nicht mehr sein. Soll es auch nicht. Aber trotzdem muss man sich immer wieder fragen, was denn durch die Reformen der vergangenen Jahre nun eigentlich erreicht worden ist.
Es ist ja durchaus so, dass es auch früher bereits möglich war, das Abitur nach zwölf Jahren zu machen. Schüler, denen es mit der Bildungsvermittlung zu langsam ging, konnten eine Klasse überspringen. Und in Berlin gab es für solche Schüler sogenannte Schnellläuferklassen, in denen der Gymnasialstoff von neun auf acht Jahre verdichtet wurde.
Dagegen war nie etwas einzuwenden. Doch wie ist es jetzt? Da - wie allenthalben betont wird - die Qualität des Abiturs durch die Verkürzung auf insgesamt zwölf Schuljahre nicht gemindert wird, werden logischerweise alle Schüler gleichsam zwangsverschnellläufert. Alle sind nun also per Dekret hochbegabt. Das nenne ich doch mal erfolgreiche Politik! Klammer auf: Wobei ich an dieser Stelle nicht die Frage diskutieren möchte, um was für Begabungen es hier geht und dass es zahllose andere und oft nicht weniger hohe Begabungen gibt, die in der Schule lediglich nicht abgefragt werden - Klammer zu.
Wie auch immer - alle Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter wissen es: Bis auf wenige Ausnahmen ist die von den Schülern erwartete Leistung ohne eine intensive Nachbeschulung zu Hause nicht zu erreichen. Unsere staatlichen Schulen haben also definitiv den Anspruch aufgegeben, gleichsam aus sich selbst heraus den wesentlichen Anteil der Bildungsarbeit an der jungen Generation zu leisten. Die häusliche Nachbeschulung, das partielle home-schooling, ist sozusagen fest im System implementiert.
Und was das bedeutet, ist sofort klar: Diejenigen Kinder, die aus Familien und Schichten stammen, die diese Nachbeschulungsleistung entweder privat erbringen können oder über die nötigen Mittel verfügen, diese zu kaufen, werden das System letztendlich mit Erfolg durchlaufen. Zwar sind dabei wahrscheinlich alle unzufrieden: die Schüler, die Eltern, die Lehrer - aber die Sache wird alles in allem irgendwie funktionieren.
Die Kinder aber, die aus den sogenannten bildungsfernen Schichten stammen, werden noch brutaler und radikaler auf der Strecke bleiben, als es früher schon der Fall war. Die ganze schulpolitische PISA-Hysterie hat also den vollkommen gegenteiligen Effekt von dem, was PISA uns als Defizit eigentlich bescheinigt. PISA sagt nämlich gerade nicht, dass wir ausschließlich un- oder zu wenig gebildete Kinder haben. Was PISA festgestellt hat und immer wieder feststellt, ist, dass es bei uns eine krasse Spaltung der Gesellschaft in Gebildete und Ungebildete gibt, so krass wie in kaum einem anderen Land.
Eine Politik, die die zu erbringende Bildungsleistung gezielt in die Familien abschiebt, ist daher die schlechteste Bildungspolitik überhaupt. Sie macht die Bildungsfernen noch bildungsferner und alle anderen unzufriedener und resignierter.
Und die Konsequenz davon ist ebenso klar: Wenn die Bildung der eigenen Kinder sowieso schon eine Sache des privaten Engagements ist, dann doch bitte richtig: dann hinein in die privaten Schulen mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten und Freiheiten in der Gestaltung der Bildungsvermittlung.
Nein, es soll nicht mehr so sein wie vor vierzig Jahren. Aber die zunehmende Abwanderung aus dem staatlichen Bildungssystem, wie es jetzt ist, muss einen wirklich nicht wundern.
Ulrich Woelk, geboren 1960 in Köln, studierte Physik in Tübingen und Berlin. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 im S. Fischer Verlag und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays sind unter anderem ins Chinesische, Französische, Englische und Polnische übersetzt. Zuletzt erschien "Joana Mandelbrot und ich".