Hochfunktionale Depression

Man funktioniert trotzdem weiter

07:06 Minuten
Eine junge Frau steht erschöpft an einem Bahngleis.
Alles läuft im Leben weiter: Nur Freude verspürt man kaum mehr. Das könnte ein Anzeichen für eine hochfunktionale Depression sein. © imago images / Cavan Images
Von Carina Schroeder |
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Wer an einer hochfunktionalen Depression leidet, kann arbeiten, dem Hobby nachgehen, sich um die Familie kümmern. Dass die Krankheit offiziell nicht im Diagnosekatalogen steht und bisher kaum erforscht wurde, macht es noch schwerer, sie zu erkennen.
Seit gut drei Wochen besucht Max die Oberberg Tagesklinik München Bogenhausen. “Ich will eigentlich nicht nur wieder funktionieren, was ich jetzt schon würde“, sagt er. „Ich könnte jetzt losfahren und könnte arbeiten. Das wäre überhaupt kein Problem, rein fachlich und rein körperlich. Das würde schon funktionieren eine Zeit lang. Aber zu welchem Preis?“ Deswegen habe er beschlossen: Er wolle sich jetzt einfach um sich kümmern. „Das klingt wirklich furchtbar egoistisch“
Max heißt eigentlich anders, hat aber Angst vor Stigmatisierungen. Die Veränderungen kommen schleichend, über Jahre, für ihn unbemerkt. So fallen ihm Montage besonders schwer. Abends trinkt er gerne ein Bier um abzuschalten. Dazu kommen noch körperliche Symptome wie Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen und grundlose Schweißausbrüche. 
“Das ist wie beim Haus, um das man sich nicht wirklich kümmert“, beschreibt Max die Entwicklung. Es bricht ja nicht gleich zusammen, sondern da fängt es erst einmal irgendwo an zu schimmeln oder hereinzuregnen, und wenn man sich nicht kümmert, dann wird es immer schlimmer. Bis dann die Schäden so groß werden, dass man das ganze Dach abdecken muss.”

Keine Lebensfreude, trotz Traumjob

Gravierend sind für Max vor allem die Veränderungen im Zwischenmenschlichen. Der Selbstständige im medizinischen Bereich zieht sich immer mehr zurück, vernachlässigt Freunde und ist gleichzeitig sehr schnell reizbar, vor allem bei seiner Familie.
Scheinbar hat er kein Problem. Er arbeitet in seinem Traumjob, hat eine tolle Familie, genug Geld. “Und das ist auch das Fatale daran, dass man dann eben der Meinung ist, man hat keinen Grund zu jammern. Man hört es ja auch immer wieder von außen: Du hast doch alles und dir geht es ja eh gut.” Doch er empfindet keine Lebensfreude mehr. Deshalb überredet ihn ein befreundeter Arzt sich Hilfe zu suchen.

Hinter der Fassade

Die Diagnose der Psychotherapeutin: eine hochfunktionale Depression. „Das heißt nicht, dass man zusammengebrochen ist und nichts mehr auf die Reihe bringt, die Waschmaschine oder die Spülmaschine oder irgendwas einzuschalten“, sagt Max. Man funktioniere ganz normal. „Aber es ist wirklich eine schlimme Depression für einen selber, die gar nicht offensichtlich ist für irgendjemand.”
Martin Rein leitet die Oberberg Tagesklinik in München Bogenhausen, in der Max gerade ist. Die hochfunktionale Depression sei keine eigenständig definierte Diagnose in dem üblichen Krankheits- und Klassifikationssystem ist, sagt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er nimmt dabei sowohl auf die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (IDC-11) Bezug, als auch auf das diagnostische und statistische Manual der amerikanischen Psychiatrie Gesellschaft.
In keinem der beiden Fachwerke findet sich die hochfunktionale Depression, sondern nur die atypische, „weil das ein bestimmter Symptomkomplex oder eine Variante der Depression ist, die in der Form noch nicht beforscht ist“, so Rein. Dementsprechend fehlten einfach die wissenschaftlichen Grundlagen, um wirklich eine Aufnahme in diesen Diagnosekatalog zu rechtfertigen.

Ärger, Wut, Erschöpfung

Die klassische Depression wird durch drei Hauptsymptome definiert: eine tiefe, ununterbrochene Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit und ein Interessenverlust. Bei der atypischen, übrigens rund ein Drittel aller Depressionen, sagt Rein, können die Menschen noch Freude empfinden, haben meist einen übersteigerten Appetit und ein hohes Schlafbedürfnis.

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Außerdem können sie schwer mit Kritik umgehen. Zusätzlich zu dieser allgemeinen Traurigkeit bei der hochfunktionalen Depression bestehe außerdem ein niedriges Energieniveau und eine erhöhte Erschöpfbarkeit: das Gefühl, schnell überansprucht und gestresst zu sein. „Das kann auch dazu führen, dass es hohe Irritierbarkeit gibt, die dann auch in interpersonellen Konflikten in Form von starken Ärger oder eben Wut auftreten kann. Die Patienten sind vermehrt kritisch, sich selber gegenüber, bis hin zu einem gewissen Perfektionismus.”

Denkmuster erkennen

Bei der atypischen und der hochfunktionalen Depression gibt es auch ähnliche Behandlungsmöglichkeiten: Verhaltenstherapie in Form von Gruppen- und Einzelsitzungen. Wobei die Patient*innen in der privaten Tagesklinik vor allem lernen sollen Denkmuster zu erkennen: “Das heißt, sie lernen, besser hinzugucken, wie sie über sich denken und wie dieses Denken über sich zu körperlichen Symptomen, aber auch negativen Emotionen führen kann.”
Zusätzlich kann medikamentös unterstützt werden, mit Antidepressiva, wie bei einer “typischen” schweren Depression. Warum ist es dennoch so wichtig ist, hier die präzise Diagnose zu stellen? “Es gibt Leute, die können am Wochenende noch ein Fußballspielen in der ersten Liga spielen“, erklärt Rein. „Dann zwei Tage später entscheiden Sie sich für den Freitod.”
Er spielt damit auf den Fußballer Robert Enke an, der 2009 Suizid begangen hat. Ein Extremfall, sagt Martin Rein, doch er zeigt, wie wenig die Menschen mit hochfunktionalen Depressionen auffallen. Sie würden deshalb oft zu spät Hilfe bekommen.

Noch kaum erforscht

Die Debatte um die Diagnosestellung bei Depressionen geht längst über die genaue Benennung hinaus. „Es gibt den Wunsch, die Diagnosekriterien besser fassbar und mehr mit sogenannten Endophänotypen als die ganz wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zu positionieren“, sagt Rein. Endophänotypen, das seien Beschreibung, „die nicht nur an der Oberfläche stattfinden, sondern auch wissenschaftlich und biologisch messbar sind“.
Fraglich ist jedoch, inwiefern Depressionen überhaupt im Körper nachgewiesen werden können. Da die hochfunktionale Depression noch so wenig erforscht ist, gibt es in Deutschland bislang auch kaum Aufklärung und nur wenige spezialisierte Anlaufstellen.
Max hat sich dennoch eigenständig Hilfe geholt. “Weil ich eigentlich schon der Meinung bin, ich muss mich jetzt nicht schämen“, sagt er. „Ich habe genug geleistet. Wenn ich die wöchentliche Arbeitszeit nehme, dann bin ich jetzt deutlich über dem Durchschnitt gewesen 20 Jahre lang.“ Dementsprechend offen gehe er jetzt auch damit um. „Aber mehr aus einer Trotzreaktion: Dass ich sage, ich habe mir das jetzt aber schon verdient, dass ich mich um mich selber kümmere.”
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