Hochseil

Von Charlotte Drews-Bernstein |
Peter Rühmkorf (1929 - 2008) hat sein Gedicht "Hochseil" am 1. Oktober 1975 in einem NDR-Studio zum ersten Mal vorgelesen. Es schließt mit den Zeilen: "Ich schwebe graziös in Lebensgefahr grad zwischen Freund Hein und Freund Heine."
Das vom Absturz gefährdete Herumturnen auf einem "Hochseil" kann man durchaus als Lebensbild nehmen. Nach dem Tod des Dichters im Juni 2008 hat die Autorin Charlotte Drews-Bernstein seine frühen Sandkistengespielen, ehemaligen Mitschüler, seine Kusine und Ehefrau und viele andere Weggefährten - vom Heizungsbauer "Müffi" Lercher bis zum Nobelpreisträger Günter Grass - um ihre Erinnerungen an den Dichter, Essayisten, Porträtisten und "Zeitmitschreiber" gebeten.

Die insgesamt 20 Interviews, ergänzt durch eine Vielzahl von Originaltonmitschnitten aus Rühmkorfs Vorträgen, Lesungen und nicht zuletzt den legendären Jazz- und Lyrik-Auftritten mit Michael Naura und Wolfgang Schlüter, summieren sich in den drei Kapiteln "Kleine Reimfibel", "Das lyrische ICH und Jazz und Lyrik", "Abwege und Umwege" zu einer vielstimmigen und überraschend kurzweiligen Einführung in Rühmkorfs Leben und Werk zu seinem fünften Todestag.

Wikipedia über Rühmkorf

Peter Rühmkorf war der beste Interpret seiner eigenen Werke.

Seine Lyrik muss man hören. Von ihm selbst vorgetragen entfalten die Rühmkorfschen Gedichte jene legendäre Zauberkraft, die selbst aus den archivierten Beständen seiner Auftritte heraus noch leuchtet. Säle voller Zuhörer verfielen ihm schon nach wenigen Minuten, wo immer er etwas vortrug - ob es Gedichte waren, seine Märchen- und Tagebuchlesungen oder die höchst anspruchsvollen Poetik-Vorlesungen an diversen Universitäten. Immer und überall herrschte selbst bei den gelehrtesten Vorträgen auch Kurzweil und Witz.

Dieser amüsante Vortragskünstler war Rühmkorf von Kindesbeinen an. Vergnügt und munter hopste er beim Kaninchenfuttersammeln um seine Cousine herum und unterhielt sie mit lustigen Reimen. Doch als Jugendlicher verstummte er dann. Schwere psychosomatische Essstörungen brachten ihn fast ums Leben - bis der von Krisen geschüttelte Patient schließlich selbst das ihm gemäße Heilmittel fand: Beim Verfassen von Gedichten erlangte er seine Fassung zurück. In seinem Gedicht "Hochseil" bringt er es auf den Punkt und schließt mit den Zeilen: "Ich schwebe graziös in Lebensgefahr grad zwischen Freund Hein und Freund Heine."

Das stete Ringen um eine ständig vom Absturz bedrohte Lebensbalance entspricht dem Rühmkorfschen Lebensbild. Seine Wegbegleiter - die frühen Sandkistengespielen, die ehemaligen Mitschüler, seine Cousine, seine Ehefrau und viele andere, die ihn gut kannten, vom Heizungsbauer "Müffi" Lercher bis zum Nobelpreisträger Günter Grass, können ein Lied davon singen. Ihre Erinnerungen an den Dichter, Essayisten, Porträtisten und "Zeitmitschreiber" , aufgezeichnet nach dessen Tod im Jahre 2008, fügen dem Mosaik seines Lebens in dieser Langen Nacht sogar noch ein paar neue Details hinzu, von denen selbst Rühmkorfs Ehefrau Eva überrascht wurde und ebenso der an sich alles wissende Archivar aus dem Rühmkorf-Archiv. Die insgesamt zwanzig Interviews, werden ergänzt durch eine Vielzahl von betörenden Originaltonmitschnitten aus Rühmkorfs Vorträgen, Lesungen und nicht zuletzt den legendären Jazz & Lyrik-Auftritten mit Michael Naura und Wolfgang Schlüter. Das hatte es s o vor der Begegnung von Peter Rühmkorf und Michael Naura ja auch noch nicht gegeben, dass ein zeitgenössischer Jazz-Komponist eigens auf die Gedichte eines zeitgenössischen Lyrikers Melodien und Rhythmen schrieb. Der "King of Jazz" von Hamburg, Michael Naura, schwärmt bis heute von seiner Zusammenarbeit mit Peter Rühmkorf:

"Ich konnte mich mit dem, wie Rühmkorf auf diese genial verdichtete Art und Weise das Leben darstellt, total identifizieren bis zu einem Grad hin, der nachher erschreckend war. Ich hab also morgens, bevor ich überhaupt 'n Tee getrunken hab, hab ich erstmal 'n Gedicht von Rühmkorf gelesen ..."

Und dieses "sich identifizieren können" ist vielleicht Rühmkorfs Wirkungsgeheimnis. Er hat sein "lyrisches ICH" als Versuchsperson benutzt, um das ersehnte Echo, den erhofften Widerhall im ICH seines Publikums zu suchen.
Während sich die drei Kapitel der Langen Nacht
"Kleine Reimfibel",
"Das lyrische ICH und Jazz & Lyrik" und
"Abwege und Umwege"
zu einer vielstimmigen und überraschend kurzweiligen Einführung in Rühmkorfs Leben und Werk summieren, kann der Hörer dabei im Selbstversuch herausfinden, ob und womit ihm die Rühmkorfsche Lyrik Identifikationsmöglichkeiten und Projektionsflächen bietet

Charlotte Drews-Bernstein
Peter Rühmkorf - Zwischen Freund Hein und Freund Heine
3 Audio-CDs
Eine Einführung in Leben und Werk. 202 Min.. Sprecher: Joachim Kersten .
2009 Hoffmann und Campe

Der Titel des Hörbuchs ist dem Gedicht "Hochseil" von Peter Rühmkorf entnommen, das mit den Zeilen schließt:

"Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine".


Der Dichter Peter Rühmkorf,
am 25. Oktober 1929 in Dortmund geboren, lebte seit 1964 als freier Schriftsteller in Hamburg und wurde 1976 - nach Lehraufträgen in Austin/Texas - Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. Er erhielt viele weitere Auszeichnungen, darunter 1993 den Georg Büchner Preis, 1989 die Ehrenpromotion durch die Justus-Liebig-Universität Gießen und 1999 durch die Georg-August Universität Göttingen. Wenige Tage vor seinem Tod wurde Rühmkorf als 27. Auszeichnung der Kasseler Literaturpreis für Grotesken Humor zugesprochen.

Der Sprecher Joachim Kersten
lebt als Rechtsanwalt, Autor und Herausgeber in Hamburg. Er gehört zum Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung und ist zudem - neben Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach - als Sprecher in den Hörbuchfassungen von Arno Schmidts "Zettels Traum", "Kühe in Halbtrauer" und "Verschobene Kontinente" zu hören sowie, gemeinsam mit Stephan Opitz, in der Hörbuchfassung von Rühmkorfs "Paradiesvogelschiß".

Die Autorin und Regisseurin
Charlotte Drews-Bernstein und Peter Rühmkorf kannten sich seit 1970 aus dem Verband deutscher Schriftsteller in Hamburg, wo sich beide für die Verbesserung der Autorenrechte bundesweit einsetzten. Zu einer beruflichen Zusammenarbeit aber kam es erst im Jahre 2008: Charlotte Drews-Bernstein produzierte auf Rühmkorfs Wunsch das im Hoffmann und Campe Verlag erschienene Hörbuch "Paradiesvogelschiß".


Weitere Hörtipps:

Paradiesvogelschiß
1 Audio-CD
von Rühmkorf, Peter;
Gedichte. Auswahl. Gelesen vom Autor, v. Joachim Kersten u. Stephan Opitz .
2008 Hoffmann und Campe

Noch einmal: Lichtblicke und Gedankenblitze von Peter Rühmkorf. Das Alter mochte Peter Rühmkorf milder gestimmt haben, doch seine Zweifel waren nicht geringer geworden: "Manches wird zierlicher, manches brutaler, allseits genierlicher: Dein Feld wird schmaler. Früher die ganze Flur dir zu Belieben, fast eine Furche nur ist dir geblieben." Als Aufklärer und als Sinnenmensch hat Rühmkorf die melancholischen Schwankungskurven seiner Existenz in virtuosen Versen bemessen. Mit witzbewehrter Lebenslust lesen Peter Rühmkorf, Joachim Kersten und Stephan Opitz. Musik: Michael Naura, Wolfgang Schlüter und Herbert Joos.




Du, ich - und zuweilen Liebe, Audio-CD
Liebesgedichte und Musik.
Ausgew. u. gelesen v. Jan P. Reemtsma .
2008 Hoffmann und Campe
Von Catull bis Rühmkorf - Liebesgedichte aus vier Jahrtausenden mit Musik, ausgewählt und gelesen von Jan Philipp Reemtsma. Jan Philipp Reemtsma liest eine sehr persönliche Auswahl von Liebesgedichten zu Flöten- und Gitarrenmusik - ausgewählt und gespielt von Wally Hase und Thomas Müller-Pering.
Nach einem gemeinsamen Auftritt beim Büsinger Musikfestival 2006 entstand diese Aufnahme 2007 im Wielandmuseum in Oßmannstedt bei Weimar. Liebende wie Musikfreunde werden gleichermaßen entzückt sein


Wer Lyrik schreibt, ist verrückt!, 2 Audio-CDs
von Rühmkorf, Peter; Enzensberger, Hans M.;
Rühmkorf und Enzensberger live.
2008 Hoffmann und Campe
Einmal Avantgarde, immer Avantgarde: zwei Lyriker im Doppelbild. Sie sind beide Jahrgang 1929, beider Biografie ist eng mit dem Werdegang der Bundesrepublik verbunden, zu deren repräsentativen Autoren diese beiden Altmeister unserer Lyrik zählen: -Enzensberger und Rühmkorf. Im gemeinsamen Auftritt kokettieren die beiden Poeten mit Altersverfall und Vergänglichkeit, doch umsonst. Einmal Avantgarde, immer Avantgarde. Ein herrlicher lyrischer Schlagabtausch zweier großartiger Wortkünstler!





Arno Schmidt Stiftung (Hrsg.):
Arno Schmidt Preis 1986 für Peter Rühmkorf
Bargfeld 1986
(mit Texten von Jan Philipp Reemtsma, Peter Rühmkorf und Arno Schmidt)


Peter Rühmkorf im Rowohlt Verlag
Peter Rühmkorf - Zwischen Freund Hein und Freund Heine (Cover)
Peter Rühmkorf - Zwischen Freund Hein und Freund Heine (Cover)© Charlotte Drews-Bernstein