Weiterführende Links zu Hochsensibilität:
Zum Stand der Forschung: http://www.hochsensibel.org
Internetforum für Hochsensible mit HSP-Test: https://www.zartbesaitet.net/
Erfahrungsbericht einer Hochsensiblen auf zeit.de
Mehr als Neurotiker?
05:45 Minuten
Starke Gerüche und Geräusche überfordern sie, sie spüren Energien in einem Raum und sind besonders empfindsam: Etwa jeder Fünfte gilt als hochsensibel. Unter Wissenschaftlern ist allerdings umstritten, ob es Hochsensibilität wirklich gibt.
"Im Folgenden finden Sie 39 Aussagen, die das Ausmaß der Feinfühligkeit einer Person erfassen."
Zum Beispiel: "Ich fühle mich durch starke Sinneseindrücke wie Riechen überfordert."
Manche Fragen zielen eindeutig auf die sinnlichen Wahrnehmungen ab und manche eher auf die sozialen: "Wenn sich Menschen in einer Umgebung unwohl fühlen, versuche ich die Umgebung angenehmer zu gestalten."
Ich mache einen Test zu Hochsensibilität. Ich erschrecke sehr leicht, wurde als Kind für schüchtern gehalten und vermeide Filme mit Gewaltszenen. Das spricht dafür, dass ich besonders feinfühlig bin.
Im Internet haben zwei Tests ergeben, dass ich hochsensibel bin – ein dritter nicht. Der aktuelle Test ist seriöser. Er ist Teil einer Studie der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Dort forscht Sandra Konrad zu Hochsensibilität. Sie wertet meinen Fragebogen aus und will mir in ein paar Tagen eine Antwort geben.
Sofort spüren, wie es anderen geht
In der Zwischenzeit treffe ich eine Freundin, die sich schon sicher ist, dass sie hochsensibel ist.
Paulin ist 28 und wohnt in einer Mietwohnung mitten in Berlin-Neukölln. Sie hat gemerkt, dass sie hochsensibel ist, weil sie unter dem Lärm in ihrem Viertel leidet. Manchmal sogar so sehr, dass sie auf einer dicht befahrenen Straße anfangen musste zu weinen.
"Dass alles auf einmal kommt. Oft. Und dass das dann so überwältigend ist, also dass die Geräusche wahnsinnig laut sind, ja, manche Sinneseindrücke so intensiv sind und ich mich aber nicht entscheiden kann, sie gerade nicht zu fühlen, zu sehen oder zu hören, sondern dass es dann einfach da ist", sagt Paulin. "Und in der sozialen Ebene ist es dieses Sofort-ein-Gespür-zu-haben, wie es einer Person geht, was für Energien in einem Raum sind. Also dieses Feinfühlig-Sein, gleichzeitig aber auch ungefiltert das alles wahrzunehmen."
Menschen, die generell sehr stark auf Reize reagieren und unwichtige Informationen nicht so leicht ausblenden können, gelten laut Elaine Aron als hochsensibel. Sie hat in den 80er-Jahren den ersten Fragebogen zu Hochsensibilität entwickelt. Die aktuelle Forschung orientiert sich weitgehend an ihr. Eine einheitliche Theorie zu Hochsensibilität gibt es aber immer noch nicht.
Für das echte Leben ist die Theorie mal wieder nicht so wichtig. Paulin hat auf ihr Gefühl gehört: ihr war es in der Stadt auf Dauer zu anstrengend. Zu viele Reize, zu viel Lärm.
Vor Kurzem ist sie deshalb aufs Land gezogen. Sie kommt nur noch alle paar Wochen in ihre Berliner Wohnung.
Vor Kurzem ist sie deshalb aufs Land gezogen. Sie kommt nur noch alle paar Wochen in ihre Berliner Wohnung.
"Die Sinneseindrücke kommen in ganz anderen Dosen", sagt sie. "Also, hier ist das teilweise wirklich überwältigend gewesen, alles durcheinander, alles auf einmal. Und auf dem Land habe ich jetzt einen Raum, wo ich mehr Ruhe habe und das auch mehr genießen kann, so eine Feinfühligkeit zu haben."
Und wie hat sich das angefühlt, als du erfahren hast, dass es so was gibt wie Hochsensibilität als Idee?
"Ich glaube, das war entlastend. Weil das dann nicht mehr dieses Gefühl war von: oh, ich bin irgendwie komisch oder andere halten das doch auch aus, warum kann ich das nicht aushalten? So ein bisschen war's sogar sowas: oh, das ist ja irgendwie was Besonderes oder so. Ich habe auf einmal auch die positiven Seiten gespiegelt bekommen und nicht nur diese Ohnmacht, dem so ausgeliefert zu sein."
So wie Paulin geht es anscheinend vielen Menschen. Im Internet häufen sich Foren über Hochsensibilität.
Einfach nur ein künstlicher Hype?
Seit Aron ihren ersten Fragebogen entwickelt hat, ist viel Zeit vergangen. Aber die Wissenschaftler sind sich noch uneins darüber, ob es überhaupt so etwas wie Hochsensibilität gibt. Einige Wissenschaftler meinen, dass Hochsensibilität der nächste Hype um vermeintliche Störungen ist - nach ADHS und Narzissmus.
Darüber möchte ich mit Sandra Konrad sprechen. Und es gibt ja noch meine eigene Diagnose, die ich gerne kennen würde.
"Ich hab Ihre Testergebnisse mitgebracht! Sie haben einen Gesamtscore von 57 und das ist natürlich weniger als 88 für Frauen. Und damit sind Sie im durchschnittlichen Bereich. Und sind dementsprechend so sensibel wie 68 Prozent der Menschen."
So sensibel wie 68 Prozent - nicht gerade ein Sensibelchen also. Was unterscheidet dann die 20 Prozent, die als hochsensibel gelten, von mir?
Es gibt Wissenschaftler, die sagen, dass ihre Hirnaktivität anders ist, dass sie Reize tiefer verarbeiten, andere Hirnregionen einbeziehen.
Mehr als eine Neurose
Auf der anderen Seite gehen einige Persönlichkeitspsychologen davon aus, dass so etwas wie Hochsensibilität gar nicht existiert. Hochsensible Menschen sind eigentlich neurotisch - mehr nicht. Das heißt, dass sie emotional labiler sind als andere, ängstlicher, nervöser. Und dass sie schlechter mit Stress umgehen können.
Sandra Konrad widerspricht:
"Die Zusammenhänge zum Neurotizismus sind da, das stimmt schon. Aber die sind nicht so hoch, dass man sagen kann, dass Hochsensibilität ausschließlich über Neurotizismus erklärt wird. Es gibt ja die Big Five, das sind die Persönlichkeitsfaktoren, die die Persönlichkeit von Menschen beschreiben. Allein diese fünf Faktoren erklären um die 25 Prozent von Hochsensibilität. Das ist nicht viel. Und insofern scheint da tatsächlich noch ein bisschen mehr dahinter zu stecken."
Für Sandra Konrad sind Hochsensible neurotischer als andere Menschen. Und doch unterscheidet sie etwas. Konrad glaubt, dass Hochsensible zum Beispiel offener sind für neue Erfahrungen als die typischen Neurotiker. Für mehr Details fehlt bisher die nötige Forschung. Aber selbst Konrad ist sich nicht ganz sicher, dass es Hochsensibilität wirklich gibt.
Sie rät Menschen, die sich für hochsensibel halten, sich eigene Grenzen zu setzen, sich nicht zu überfordern.
Und wer aufs Land zieht, um vor dem Lärm der Stadt zu fliehen, braucht dafür kein abschließendes Urteil aus der Wissenschaft. Auf das eigene Gefühl zu vertrauen, kann da besser helfen.