"Hochstilisiert wird er sicher"

Klaus Theweleit im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
John Lennon, der am Samstag 70 Jahre alt werden würde, ist ein besonderer Vertreter der Popgeneration der 1960er, meint Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Die kooperative Arbeitsweise, wie die Beatles sie praktizierten, entspräche "genau den politischen Bewegungen" dieser intellektuellen Aufbruchsjahre.
Matthias Hanselmann: Ich spreche mit dem Schriftsteller, Literatur- und Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Guten Tag, Herr Theweleit!

Klaus Theweleit: Ja, guten Tag!

Hanselmann: Mein Kollege Alan Posener von der "Welt" schreibt: Der Mann, der "Give Peace a Chance" komponierte, verachtete die Massen, und er schuf den Typus des Popintellektuellen, unter dem wir bis heute leiden. Sie sind, wenn ich das verraten darf, zwei Jahre nach John Lennon geboren worden und mit den Beatles sozusagen aufgewachsen. Wir wollen mal versuchen herauszufinden, was John Lennon zu diesem Popintellektuellen machte. Ist er für Sie überhaupt einer, oder war er einer?

Theweleit: Er war gewiss einer, aber ich würde nicht sagen, dass er diese Figur erfunden hat. Diese ganze Generation der im Krieg Geborenen, also Lennon 40, Bob Dylan 41, Hendrix 42, ich auch 42, sind alle aufgewachsen in Auseinandersetzungen mit dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Kindheit: Mit verschwundenen Vätern oder mit dem, was die Elterngeneration während dieses Krieges gemacht hat. Und die, die das nicht verdrängt haben, sind alle mehr oder weniger Intellektuelle oder politisch denkende Leute geworden.

Das unterscheidet die Popmusik, die ab 62 mit Beatles und Rolling Stones und Dylan einsetzt, von dem, was die Elvis-Generation gemacht hat. Diese ganze neue Popgeneration ist in gewisser Weise intellektuell.

Hanselmann: Wie würden Sie denn in diesem Zusammenhang überhaupt intellektuell definieren?

Theweleit: Gut, kann man auf zwei Ebenen oder auf drei Ebenen tun. Einmal betrifft das ein Denken zu dem Material, mit dem man umgeht, das sind die Texte. Es gibt intellektuellere Texte, die sich auf laufende politische und zurückliegende politische Sachen beziehen: Von "Yellow Submarine" bis "I am the Walrus", wo Edgar Allan Poe auftaucht als verfolgter Dichter, das parallel läuft zu Dylans "Ezra Pound" und T. S. Eliot "Fighting in the Captains Tower", Freundschaft mit Allen Ginsberg und bei Lennon später Freundschaft mit Andy Warhol in New York. Das sind Leute, die intellektuell über ihren Popkontext Lovesongs, bis dahin hauptsächlich Rocksongs, hinaus denken. Von den Alten übrigens auch Chuck Berry, bei dem man sagen kann, dass es da anfing. Das ist eigentlich der erste Popintellektuelle in seinen Texten.

Und dann ist es der Umgang mit den anderen – es gibt nicht mehr den Leader und eine Band, sondern diese Gruppe – man kann Lennon nicht von den Beatles trennen, das ist diese ungeheure, da zum ersten Mal mit den Stones auftauchende Boygroup, von kooperativen Leuten, das ist eine neue Produktionsform. Es entspricht genau den politischen Bewegungen der 60er, Cooperation in der Produktion. Das ist intellektuell.

Und dann die Lebensformen, der Umgang schließlich. So haben sie alle erst Frauen, denen sie überlegen sind und die sie betrügen, aber dann gibt es Verbindungen mit ebenbürtigen Frauen, wie bei Lennon mit Yoko Ono. Das ist eine höchst politische Sache in dem Moment, macht dann auch die Trennung aus der Gruppe, das ist ganz typisch. Das hat nicht etwa Yoko Ono, wie ihr oft angehängt wird, sozusagen als Sprengsatz hergestellt, sondern das ist eine neue Lebensform von Gleichberechtigung, Ebenbürtigkeit von Mann und Frau.

Hanselmann: Oder Yoko Ono hat die Zeichen der Zeit sozusagen repräsentiert als stark selbstbewusste Frau.

Theweleit: Absolut, ja.

Hanselmann: Gehört solch einer intellektuellen Musikerpersönlichkeit, wie John Lennon es war, wie Sie sagen, auch die Message? Also die "Neue Zürcher Zeitung" nennt Lennon eine legendäre Musikerpersönlichkeit zwischen Messianismus und Seelenqualen. War er messianistisch, hatte er eine Message, die er unbedingt unter die Leute bringen wollte?

Theweleit: Nein, hatte er garantiert nicht, jedenfalls der frühe Lennon nicht, der Beatle Lennon nicht. Die wollten tolle Musik machen, und zwar Musik, wie sie bis dahin auf der Popebene nicht gemacht worden war. Das konnten sie von England aus, weil sie mit den ganzen amerikanischen Musicals – Cole Porter und all diesen Sachen – aufgewachsen sind, die zum Beispiel Europäern, besonders den Deutschen fehlten. Also hat er eine gute Grundlage.

Messianisch ist eher Mitte der 60er, auch wenn er es versucht zu dementieren, Bob Dylan mit seiner Anti-War-Message, aber die spielt bei den Beatles natürlich auch eine große Rolle. Das nimmt Lennon dann erst in den 80ern, Quatsch, in den 70ern auf. In New York, also dieses "Give Peace a Chance". Von daher ist dieser Unsinn, den dieser Mensch in der "Welt" geschrieben hat mit Massenverachtung, totaler Quatsch. Er schreibt ja nicht nur diesen Song, sondern er geht zu den Anti-Vietnam-Demonstrationen, sie organisieren sogar welche, Antikriegsdemonstrationen, und das sind große Massenkundgebungen in New York, also keine Spur auf der Ebene von Massenverachtung.

Wichtig ist die Trennung, die durchgeht bei ihm, die aber nicht nur für ihn zutrifft, sondern für die ganze politische Bewegung zu der Zeit: Gewalt oder nicht Gewalt. Das machen sie mit dem "Revolution"-Song klar, "If you go Carrying Pictures of Chairman Mao You can count me out" ...

Hanselmann: Oder "When you talk about destruction", wir haben es eben gehört.

Theweleit: Genau. Das spaltet ja die ganze Bewegung.

Hanselmann: Ich will es noch mal kurz so fassen: Als die Rolling Stones sich mit dem "Street Fighting Man" an die Studentenbewegung regelrecht rangeschmissen haben, da sagt eben Lennon das, was Sie eben zitiert haben: Das ist nicht mein Ding. Warum tut er das denn, was bringt ihn dazu?

Theweleit: Ich würde das nicht so krass trennen, denn dieses Ranschmeißen an die Studentenbewegung, was Lennon da sagt, ist absolut Teil der Studentenbewegung, besonders auch der amerikanischen, Berkeley. "Destruction - You can count me out", das sind ja nicht alles Weathermen oder alles Leute, die zur RAF gehen, das muss man sehen, dass das die Minderheiten sind, diese Gewaltleute in der Studentenbewegung.

Lennon gehört hier eher zur Mehrheits-Line, die gewaltlos den Widerstand macht, den Protest gegen den Vietnamkrieg, also er ist absolut Teil davon, nicht abgesetzt davon. Und das geht mit "Give Peace a Chance" und "Woman is the nigger of the World", wo er, kann man sagen, schmeißt er sich an die Frauenbewegung ran, das ist auch Quatsch. Das ist Teil des Denkens und der Lebensverhältnisse in dem Moment, und darin hat er eine klare Position.

Hanselmann: Ist mit der Ermordung John Lennons vor 30 Jahren der letzte Intellektuelle des Pop gestorben?

Theweleit: Ist er bestimmt nicht, denn die Intelligenz in den Popformaten ist ja weitergegangen, auch bis zu einer Figur wie Madonna hin, die die Produktionsbedingungen ihrer Sachen in die Hand nimmt, viel mehr als Popstars sonst, nicht mehr abhängig ist. Prince macht Ähnliches. Intellektuell heute schreibt zum Beispiel auch Lou Reed. Die Velvet Underground muss man von New York her zu der ganzen britischen Geschichte ja dazunehmen, dazuzählen. Nicht umsonst ist Andy Warhol für alle eine Art Zentrum auch da drin.

Hanselmann: Bei all dem, worüber wir eben gesprochen haben, Herr Theweleit, hat mich ein Gefühl beschlichen, nämlich das, dass John Lennon vielleicht weniger intellektuell gewesen sein könnte, als wir die ganze Zeit behaupten beziehungsweise voraussetzen. Könnte es sein – und bitte entkräften Sie mich mit einem Satz, wenn Sie das können –, dass er ein Stück weit zu etwas hochstilisiert wurde, das er vom Wesen her gar nicht war, dass also die John-Lennon-Fans in ihm den Intellektuellen sehen wollten, weil man sich dann besser mit der Band, mit ihm, mit der politischen Bewegung der Zeit identifizieren konnte?

Theweleit: Ja, hochstilisiert wird er sicher, weil man ihn in einer gewissen Weise aus den Beatles und aus den Bewegungen der 60er herausbricht. Das ist nicht richtig, die Koproduktion ist viel wichtiger, und später die Koproduktion mit seiner Frau Yoko Ono und mit der New Yorker Scene. Das ist typisch für Menschen dieses Jahrzehnts, für Jugendliche, die da aufwachsen, dass sie ihre Sache nicht alleine, nicht als Superstar machen wollen, sondern immer in Kombination mit anderen. Das ist überhaupt typisch für diese Generation. Also bitte kein obersuperintellektuellen Star daraus basteln.

Hanselmann: Klaus Theweleit über John Lennon.
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