Das war Wahnsinn gewesen, das hat die Ahr abgerissen, und einfach mal hundert Meter weiter hingelegt, da sind Kräfte, was für eine Kraft Wasser hat.
Stefan Schmitt
Hochwasserschutz im Ahrtal
Mehr als ein halbes Jahr nach der Jahrhundertflut im Ahrtal ist der Wiederaufbau in der damals schwer getroffenen Ortsgemeinde Schuld zwar vorangeschritten. Aber noch immer sind manche Häuser zerstört und es führen stellenweise nur provisorische Brücken über die Ahr. © imago / Future Image / C. Hardt
Was man aus der Jahrhundertflut lernen muss
30:01 Minuten
Es wird Jahre dauern, um die Schäden des zerstörerischen Hochwassers im Ahrtal im letzten Sommer zu beheben. Experten warnen schon vor neuen Fluten, und neuen Katastrophen - wenn der Hochwasserschutz in Deutschland nicht endlich ernst genommen wird.
Sinzig an der Ahrmündung: Um 9.30 Uhr steuert Stefan Schmitt seinen Wagen vom Hof der Straßenbaumeisterei. Zum Einsatz im Ahrtal. Wie fast jeden Tag.
„Wir fahren jetzt zur Baustelle beim Tunnel Altenahr, dort war ja die Straße so stark zerstört worden, dass wir da einen Krater hatten von acht bis zehn Meter Tiefe, die Straße ist auf 300 Meter komplett weggespült worden.“
Stefan Schmitt leitet das Projektbüro „Wiederaufbau Ahrtal“. Ein Containerdorf auf dem Parkplatz: Gut ein Dutzend Mitarbeiter planen und koordinieren von hier aus die Arbeiten.
„Das Ahrtal ist ein 40,50 Kilometer langes Tal, rund 70 km Straßen. Und da kann man sagen, dass das gesamte Straßensystem komplett in Mitleidenschaft gezogen wurde. Rund ein Viertel der Straßen waren komplett zerstört.“
Weggespülte Straßen, zerstörte Brücken. Abgeschnittene Ortschaften, kein Strom-, keine Wasserversorgung. Tausende zerstörte Häuser, mehr als 130 Tote. Das war die Bilanz der Flutkatastrophe aus dem Juli 2021. Seit einem halben Jahr läuft der Wiederaufbau.
„Es gibt momentan keine Eisenbahn. Die Schüler müssen trotzdem in die Schule kommen. Ich kann nicht vorne und hinten das Ahrtal zu machen und dann mal bauen, das muss ja in einer Abstimmung erfolgen: Die Anlieger müssen hin, die Helfer müssen hin, die Kinder müssen zur Schule befördert werden, all das gilt es abzuwickeln.“
Verlassene Wohnungen, zugenagelte Fenster
Die Bundesstraße verläuft parallel zum Fluss. Die Sonne scheint, friedlich plätschert die Ahr in ihrem Bett. Schmitt fährt durch Bad Bodendorf, Heimersheim, Bad Neuenahr. Viele Wohnungen sind verlassen, Fenster im Erdgeschoss zugenagelt. Hier und da liegen noch Möbel am Straßenrand. Generatoren und mobile Straßenbeleuchtungen stehen auf dem Bürgersteig. Am Rande der Ortschaften immer wieder Wohncontainer, mobile Holzhäuser – Notunterkünfte für die Flutopfer.
Mit jedem Kilometer wird der Flusslauf kurviger, die Hänge mit den Weinreben steiler, die Schäden in den Ortschaften größer. Mobile Ampeln regeln den Verkehr, auf einer Wiese liegt ein riesiger Haufen Metallschrott. Eine ehemalige Bahnbrücke, 80 Meter lang.
Die Kraft des Wassers. Damit muss Stefan Schmitt auch für die Zukunft rechnen.
„Wir heißen zwar Wiederaufbau, aber es geht ja nicht nur um den reinen Wiederaufbau, es geht ja auch um die Thematik des Wiederaufbaus hinsichtlich Zukunftssicherheit, und was hier das Hauptthema ist, der Hochwasserresilienz, der sicheren Bauwerke, ob das Brücken oder Straßen sind.“
Höhere Brücken, stabilere Fundamente, größere Durchflüsse. Das ist der Plan für die neuen Bauwerke. Die historischen Bogenbrücken, die zu Dutzenden zerstört wurden, hatten flache Fundamente, enge Durchflüsse. An ihnen verfingen sich Baumstämme, Autos, Wohnwagen. Das Wasser staute sich auf, am Ende unterspülte es die Fundamente und riss die Brücken mit sich.
Während Stefan Schmitt seinen Wagen durchs Ahrtal steuert, beugt sich in Braunschweig Wolfgang Büchs über einen tragbaren Computer, ruft ein Luftbild der Ahr auf.
„Das ist die Befliegung kurz nach der Flut 19. bis 24.7, Sie sehen, dass die Ahr sich doch sehr viel Raum geholt hat. Und der Fluss sich sehr weit ausgeweitet hat.“
Jahrzehnte hat der Biologe im Ahrtal geforscht. Zusammen mit 70 Wissenschaftlern Flora und Fauna der Region dokumentiert. 1500 Seiten umfasst die dreibändige Monografie, die Büchs im Auftrag der rheinland-pfälzischen Landesregierung erarbeitet hat. Er gilt als einer der besten Kenner des Ahrtals.
„Der Fluss ist ein Naturphänomen. Und ein Naturphänomen muss man annehmen und versuchen, damit umzugehen. Und man sollte nicht versuchen, die Natur zu sehr durch technische Maßnahmen einzuengen, die dem natürlichen Drang des Flusses widerstreben. Er wird sich das, was er braucht, wiederholen.“
"Das kann nur in einer Katastrophe bei der nächsten Flut enden"
Wolfgang Büchs hat in den letzten Wochen unzählige Mails an die Behörden vor Ort geschrieben. Warnungen, belegt mit Bildern. Aufnahmen nach den Aufräumarbeiten. Schwere Bagger am Flussufer, Planierraupen auf den Flussauen.
„Und es ist gebaggert worden ohne Ende. Der Flusslauf ist wieder sehr, sehr eingeengt worden, an verschiedenen Stellen, sogar an den Nebenbächen. Hier hat man den Saarbach wieder zu einem kanalartigen Rinnsal eingeengt, das kann nur in einer Katastrophe bei der der nächsten Flut enden.“
Mehr als 40 Gebirgsbäche münden in die Ahr. Bringen Wasser aus der Eifel. Rund 900 Quadratkilometer ist das Einzugsgebiet groß. Jeder Regentropfen, der hier nicht versickert oder verdunstet, landet am Ende in der Ahr.
Während der Wiederaufbau im Tal läuft, machen sich Untersuchungsausschüsse in den Landtagen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen an die politische Aufarbeitung der Flutkatastrophe. Wurden Wetterwarnungen ignoriert, Evakuierungsmaßnahmen zu spät eingeleitet? In diesen Fragen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft;
„Viele Geschichten und Erzählungen, die wir jetzt in NRW und Rheinland-Pfalz mit nicht weitergeleiteten Warnungen, mit Telefonhörern, die nicht abgenommen worden sind, mit unklaren Zuständigkeiten, mit einer Bevölkerung, die sich nicht informiert fühlt und die auch nicht informiert wurde.
Viele dieser Erzählungen kennen wir von dem Hochwasser aus dem Jahr 2002. Und das ist eigentlich ein bisschen ein wirklich tragischer Punkt. Wenn man überlegt, da sind 20 Jahre dazwischen gewesen, dass eigentlich aus diesen Ereignissen so wenig gelernt wird.“
Hochwasserschutz in Grimma
Christian Kuhlicke beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit Hochwassern. 2002 zerstörte die Mulde das sächsische Städtchen Grimma – der Geograph untersuchte die Folgen, analysierte das Verhalten der Anwohner, entwickelte Schutzstrategien. Kuhlicke leitet am Leipziger Umweltforschungszentrum die Arbeitsgruppe „Umweltrisiken und Extremereignisse“.
„Im Prinzip kann man sagen: Entlang der großen Flüsse sind die Gefahren und die Risiken relativ gut kartiert, da gibt es eine Wasserdirektive durch die EU, die ist umgesetzt worden, da sind Karten produziert worden, da kann jeder praktisch, der in so einer Flussaue wohnt, entlang der Elbe, des Rheins, der weiß genau, bei welchem Hochwasserstand steht er wie tief im Wasser.
Entlang großer Flüsse sind Hochwassergefahren kalkulierbar, Versicherungen haben ihre Prämien angepasst, viele Anrainer ihre Häuser umgebaut. Die Vorwarnzeit für eine Flutwelle beträgt oft mehr als einen Tag. Ganz anders bei den kleinen Flüssen. Bei der Ahr sind es gerade Mal drei Stunden.
„In diesen kleinen Einzugsgebieten wurde ungenügend, nicht genau oder gar nicht kartiert. Das ist jetzt quasi die Aufgabe, die in den nächsten Jahren ansteht. Systematisch die Starkregenkarte in Deutschland zu produzieren.“
Denn vor allem Starkregen ist es, der kleine und mittlere Gebirgsflüsse in reißende Ströme verwandelt. Eigentlich ist das in Deutschland keine neue Erkenntnis, sagt Kuhlicke. Seit Jahren nehmen Extremwetterereignisse zu. 2002 wurde die sächsische Kleinstadt Grimma nach tagelangem Dauerregen durch das Hochwasser der Mulde schwer zerstört, elf Jahre später trat der Fluss erneut über die Ufer. Damals veröffentlichten Kuhlicke und seine Kollegen ein Strategiepapier.
Mehr Raum für die Flüsse
„Vier Säulen zur Hochwasservorsorge“ war der Titel. Wo wir im Prinzip wesentliche Merkmale einer zukunftsfähigen Hochwasservorsorge skizziert haben. Der technische Hochwasserschutz, der ökologische Hochwasserschutz, mehr Raum für die Flüsse, mehr Investitionen in die private Vorsorge, sodass alle sich an diesen Gefahren beteiligen, das haben wir damals skizziert, 2013, ja.“
Das Papier zum Hochwasserschutz landet auch auf dem Schreibtisch von Matthias Berger. Dem Oberbürgermeister von Grimma. Er ist gerade mal ein Jahr im Amt, als sich die Mulde 2002 zum ersten Mal ihren Weg durch die Gassen der Altstadt bahnt.
„Und im Grunde genommen befindet sich unsere gesamte historische Altstadt mit ungefähr 800 Gebäuden genau genommen, muss man ganz ehrlich sagen, im Flussbett. Und deshalb hat uns das Wasser auch immer wieder ereilt. Aber niemals in der 1000-jährigen Geschichte sowie 2002 und 2013.“
Heute verfügt Grimma über ein Sirenenwarnsystem, das jeden Mittwoch getestet wird. Eine Flutschutzanlage soll die Mulde im Hochwasserfall aus der Stadt halten. Ein massives Bauwerk mehr als zwei Kilometer lang, bis zu zwölf Meter tief im Fels verankert, mit knapp 80 Durchlässen, darunter riesigen, durchfahrbaren Fluttoren. Das sind die technischen Schutzvorrichtungen. Vor allem aber, sagt Berger, sind die 30.000-Einwohner sensibilisiert. Sie haben sich, wo immer es geht, der Gefahr angepasst.
„Das sind die kleinen Dinge, die haben wir auch dem Ahrtal mitgeteilt, zum Beispiel wenn ich wieder aufbaue, darüber nachdenken: Im Erdgeschoss niemals Trockenbau verwenden; keine Hohllochziegel; dass man Elektroheizzentralen ins Dachgeschoss packt. Das haben bei uns alle gemacht, damit es beim nächsten Mal durchläuft.“
Individuelle Maßnahmen, um Zukunftsschäden möglichst gering zu halten. Doch nicht immer kann man dem Wasser etwas entgegensetzen.
„Wir hatten zwei Sonderfälle in Grimma: Flussabwärts hatten wir eine große Industrieanlage, 2013 ist die umgelagert worden. Und das zweite war, wir hatten ein Einfamilienhaus direkt an der Flussaue. Und mit den Leuten haben wir damals gesprochen, und haben damals Spendengelder und Fördergelder für den Wiederaufbau genommen und haben den Leuten so ein Grundstück gebaut, und sind damals aus dem hochwasserrelevanten Gebiet umgezogen auf einen Berg.“
Nicht das erste Hochwasser an der Ahr
Mittags im kleinen Örtchen Altenahr in Rheinland-Pfalz. Die Kirchen-Glocke läutet, vor den Häusern surren Trockengeräte, Generatoren liefern Strom. Hundert Meter weiter macht die Ahr eine sanfte Kurve nach links. Reste einer historischen Brücke stehen am Wasser. Die Flut hat das Mittelteil weggerissen.
„Das Schlimme ist jetzt gerade an der Ahr, da sind die Brücken ja nicht zum ersten Mal weggespült worden. Das kam das letzte Mal vor, ich habe das nur der Literatur entnommen, 1910. Das war ähnlich übel. Das hat damals Gott sei Dank nicht so viele Todesopfer gefordert.“
Albrecht Broemme schüttelt den Kopf. Der 68-Jährige hat seine schwere Jacke vom Technischen Hilfswerk über den Stuhl gehängt. Feuerwehrchef in Berlin, Präsident des Technischen Hilfswerks – Broemme hat fünf Jahrzehnte Erfahrung im Krisen- und Katastrophenmanagement.
„Es ist in Deutschland extrem unbeliebt, aus Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen, extrem.“
Konzepte für intelligenten Hochwasserschutz
Die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben den erfahrenen Katastrophenschützer um eine Stellungnahme gebeten. Broemme studierte erst einmal die alten Pläne, erstellt nach dem Hochwasser 1910.
„Und da hat man nicht nur Dämme aufgebaut und andere Brücken wiederaufgebaut, sondern man hat auch gesagt, wir müssen Überflutungsgebiete machen, um einfach Rückzugsflächen zu bieten, dass das Hochwasser nicht in einem Schwung durchs Ahrtal saust, sondern, dass das ein bisschen in Etappen verteilt. Ein intelligentes, gut geplantes System hatte man damals.“
Dem Fluss mehr Raum geben, den Druck aus dem Tal nehmen, wo nötig die Orte zusätzlich schützen. Ein ausgeklügeltes Hochwasserschutzkonzept. Dann aber kam der Erste Weltkrieg, die Wirtschaftskrise.
„Und zehn Jahre nach dem Hochwasser wollte man anfangen, diese Dinge zu realisieren. Und da hat man gesagt, die Gelder nehmen wir lieber für den Bau des Nürburgrings. Also ironisch und spitz ausgedrückt: Der Nürburgring ist eigentlich das Rückhaltebecken der Ahr.“
Motorsport statt Hochwasserschutz – damals eine fatale Entscheidung, deren Folgen heute bewältigt werden müssen. Bessere Notfallkommunikation, bessere Warnsysteme, bessere Koordination von Helfern, Krisenstabtraining, Evakuierungsübungen – das sind konkrete Vorschläge, die auf dem Tisch liegen. Wie nach jeder Flutkatastrophe. Organisatorisch-technische Maßnahmen. Für die Erste Hilfe nach der nächsten Flut. Die ist wichtig, sagt Broemme, aber viel zu wenig.
„Was müssen wir ändern, und zwar konsequent ändern? Und dazu gehört, dass man sich bewusst wird, welche Abhängigkeiten bestehen zwischen Landwirtschaft, Waldbau, Straßenbau, Wohnungsbau und den Flüssen zum Beispiel.“
Das komplette Wassermanagement gehört auf den Prüfstand, fordert Broemme. Die zunehmenden Extremwetterlagen ändern die Lebensbedingungen für alle Flussanrainer, die in den Tälern leben. Das Risiko steigt. Und das nicht nur im Ahrtal.
„40 Prozent von der deutschen Oberfläche sind Mittelgebirge, das heißt in 40 Prozent der Fläche können sich ähnliche Vorkommnisse ereignen wie in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.“
Experten sprechen von "Hochwasserdemenz"
Die meisten Kommunen sind schlecht oder gar nicht auf extreme Hochwasser vorbereitet, befürchtet Broemme. Er hofft, dass sie Lehren aus der Katastrophe ziehen. Die Starkregengefahr ernst nehmen, ihre Warn- und Schutzmaßnahmen überprüfen. Vor allem aber hofft er, dass im Ahrtal diesmal die richtigen Konsequenzen gezogen werden.
Den Begriff verwende ich gerne: Hochwasserdemenz. Das heißt, im halben Jahr ist die Hälfte vergessen, in einem Jahr alles. Und irgendwann sagen die Leute, das haben wir doch 1910 schon gehabt, das haben wir auch wieder geschafft. Und muss ich nicht eigentlich wieder mein Haus an derselben Stelle ausbauen dürfen.“
In Braunschweig ruft Wolfgang Büchs ein weiteres Bild auf seinem Laptop auf. Der große Parkplatz in Altenahr, unweit vom Tunnel. Vor der Flut.
„Das ist der Parkplatz am Tunnel bei Altenahr, eine große versiegelte Fläche, die wir schon 1993 im Rahmen der Monografie angesprochen haben und gebeten haben, da zu beseitigen. Ist nicht geschehen, bis der Fluss kam und sozusagen hier diese Beseitigung vorgenommen hat.“
Das Wasser kann nicht versickern
In der Region um Altenahr liegt die Versiegelung um 40 Prozent höher als im Landesdurchschnitt, sagt Büchs. Weinstuben, Weinterrassen. Und immer wieder Parkplätze für Weintouristen. Da bleibt nur wenig Platz, wo Wasser versickern kann. Das nächste Bild: der Parkplatz, weggespült. Stattdessen Bagger, Rohre, ein Materialstützpunkt für die Wiederaufbauarbeiten.
„Hier habe ich allerdings die Zusage aus dem Umweltministerium, dass diese Situation nur temporär im Rahmen der Bauarbeiten bestehen bleibt und dieser Parkplatz dann wieder dem Fluss übergeben wird, da wollen wir mal hoffen, dass das so kommt.“
Büchs klickt weiter: Noch mehr Baggerarbeiten. Diesmal im Naturschutzgebiet „Ahrschleife“, einem einmaligen Biotop, hier bestimmten der Biologe und seine Kollegen die meisten Arten. Tonnenweise wurde hier Auenboden bewegt, der Boden verdichtet, Flora und Fauna schwer geschädigt. Erst durch den Fluss. Dann durch die Baggerarbeiten. Mittlerweile hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die dafür kämpft, dass die Natur nicht weiter zurückgedrängt wird. Das sehen aber nicht alle so an der Ahr.
„Es gibt andere Teile, die möchten immer den Fluss gezähmt haben, und in ein gerades Bett zurückbefördern, ich denke, das muss man auch psychologisch verstehen. Nach diesem ganzen Chaos und der Unordnung haben vielleicht viele Leute ein Bedürfnis nach klaren, übersichtlichen Strukturen, damit man sich sicher fühlt. Das ist eine trügerische Sicherheit.“
Es wäre gut, wenn man überall, wo es irgendwie möglich ist, möglichst zurückgeht von der Ahr. Auf jeden Fall nicht mehr dichter dran.
Joachim Gerke
Joachim Gerke weiß nicht, wie oft er diesen Satz schon gesagt hat. Abstand halten von der Ahr. Und Platz machen für den Fluss. Gerke leitet die Abteilung Wasserwirtschaft bei der Struktur -und Genehmigungsbehörde Nord in Koblenz. Und ist damit auch zuständig für Planungen und Genehmigungen im Ahrtal.
„Das Wasser braucht mehr Raum, je breiter das Gewässer abfließen kann bei Hochwasser, desto niedriger ist der Wasserstand. Das ist das erste Ziel. Da hat der Kreis diese Woche Aufträge vergeben, diese Maßnahmen zu planen und umzusetzen. Da wird also jetzt geschaut, wo kann ich an Flächen kommen.
Die Ahr braucht mehr Platz. Da sind sich in der Region alle einig. Doch es gibt nicht viel Platz im engen Tal. Und alle, deren private Grundstücke an den Fluss grenzen, dürfen sich ihr weggespültes Land zurückholen. Drei Jahre lang. So steht es im Wasserhaushaltsgesetz. Auch viele Kommunen schickten in den letzten Monaten auf eigene Faust Bagger und Kipper an die Ahr und ihre Zuflüsse.
„Während der Aufräumarbeiten hat jeder versucht, einen Bereich wieder so herzustellen, dass er klarkommt, da hat man die Vorländer aufgeschüttet, man ist bis an das Gewässer gegangen, man hat das Gewässer teilweise kanalisiert, anstatt das man ihm Raum gegeben hat.“
Das soll nun zurückgebaut werden. Aufräumen nach dem Aufräumen. Wieder Platz schaffen für den Fluss – das ist der langfristige Plan. Kurzfristig müssen Gerke und sein Team aber auch das aktuelle Risiko bewerten. Erste Erkenntnisse aus dem letzten Hochwasser umsetzen in neue Verordnungen. Der Pegel für ein sogenanntes hundertjährliches Hochwasser wurde um zwei Meter erhöht, die Überschwemmungsgebiete entsprechend vergrößert. Anrainer können sich in sogenannten „Arbeitspapieren“ über die Lage ihrer Häuser informieren:
„Da finden sie jetzt noch zusätzliche Flächen, das sind diese gelb schraffierten Flächen. Und diese Flächen sind die Bereiche, in denen nicht mehr gebaut werden soll, auf keinen Fall mehr gebaut werden soll.“
Hochwasserschutz vs. Tourismus
Schon gibt es Proteste aus einzelnen Kommunen. Einige Bürgermeister sehen den Wein-Tourismus in ihren Dörfern durch die neuen Regelungen gefährdet. Neu- und Erweiterungsbauten sind in den gelben Zonen kaum genehmigungsfähig. Wer allerdings sanieren will, kann loslegen.
Für alle, die ihr Haus verloren haben oder umziehen wollen, hat das Land Rheinland-Pfalz Unterstützung zugesagt. In den letzten Monaten hat Gerke immer wieder gerechnet: Niederschlagswerte im Einzugsgebiet analysiert und verglichen, die Wassermassen hochgerechnet, die durchs Ahrtal strömten. Ein Problem: Durch den Dauerregen waren die Wald- und Ackerböden im Oberlauf des Flusses bereits gesättigt, konnten also kein Wasser mehr aufnehmen. Die Wirkung von zusätzlichen Überflutungsflächen ist im Ahrtal begrenzt, sagt Gerke:
„Im Effekt kann man da wahrscheinlich eine Absenkung in Dezimetern erzielen, vielleicht mehrere Dezimeter. Es gibt eine Maßnahme, die durchgeführt wurde vor vielen Jahren an der Sauer, das ist der Grenzfluss nach Luxemburg. Da hat das Büro ausgerechnet: 50 Zentimeter Absenkung nach solchen Maßnahmen. Und das ist jetzt auch praktisch belegt nach Hochwasser. Das kann man schon schaffen.“
Mehr Rückhaltebecken, um die Fluten abzuleiten
Ein halber Meter – eine bescheidene Absenkung bei einem Pegelstand von mehr als zehn Metern, wie er in Altenahr gemessen wurde. Bleiben Rückhaltebecken, in die das Wasser, bevor es zur Flutwelle wird, kontrolliert abgeleitet werden kann. Doch wie viel Wasser müssen sie aufnehmen. Auch hier hat Gerke gerechnet. Als Maßstab das Ahr-Hochwasser von 2016 angelegt. Damals kam das Tal noch glimpflich davon, der Pegel lag bei rund vier Metern:
„Wenn sie das machen wollen, müssen sie überlegen, wie viel Wasser war in der Welle drin. Das sind 16 Millionen Kubikmeter am Pegel Altenahr. Sie müssen Raum schaffen für 16 Millionen Kubikmeter oberhalb von Altenahr. Und zwar in allen Teileinzugsgebieten.“
Rund 16 Millionen Kubikmeter Wasser hätten im Oberlauf aufgefangen werden müssen, um den Pegel auf unter vier Meter zu drücken. Das würde allerdings nur funktionieren, wenn das Wasser der mehr als 40 Zuflüsse koordiniert abgeleitet würde. Ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen. Joachim Gerke blickt ernst. Jede Einzelmaßnahme hilft, sagt er. Mehr Platz für den Fluss, weniger Versiegelung, höhere Brücken. Doch am Ende hängt alles von der Stärke und der Dauer des Regens ab:
Das Gefährliche ist: Früher konnten wir uns drauf verlassen, das Hochwasser kommt im Winter. Das ist nicht mehr. Das Gefährliche ist: Das Hochwasser kann jeden Tag kommen. Und das auch in Dimensionen, die wir nicht gewohnt sind. Und darauf müssen wir einfach eingestellt sein.
Joachim Gerke
Vor dem Tunnel in Altenahr manövrieren Bagger und Kipper. Wie ein Mahnmal ragen Reste der alten Bogenbrücke in die Ahr. Denkmalschützer wollen die Reste erhalten. Nur wenige Hundert Meter weiter kämpfen Wolfgang Büchs und die Bürgerinitiative um mehr Naturschutz im Tal. Am Ufer beraten sich Stefan Schmitt und Frank Heuser über die nächsten Arbeitsschritte.
„Ich selbst komme aus Ahrweiler und ich bin selbst betroffen, habe auch kein Haus mehr, leider.“ Stefan Schmitt schaut überrascht. „Das wusste ich gar nicht, oh je.“
Heuser war mit seiner Frau im Urlaub, als die Flut kam. 1,60 Meter hoch stand das Wasser bei ihnen im Erdgeschoss. Jetzt laufen die Wiederaufbauarbeiten. Auch zu Hause..
„In dem halben Jahr sind wir aber viermal umgezogen. Zuerst bei meinem Schwager, sechs Wochen, dann in einer Ferienwohnung, dann mussten wir in eine andere Ferienwohnung, weil die wieder belegt war … Ja, es geht weiter, es geht weiter, wir sind dran und hoffen, wir brauchen dat Haus nicht abzureißen, wir sind am Sanieren, ja.“
Die Versicherung zahlt, sagt er. Mehr als 100.000 Euro haben sie bereits in den Wiederaufbau investiert:
„Jetzt nutzen wir die Gelegenheit und bauen ganz anders, als wir vorher gebaut hatten. Wir machen im Keller druckwasserdichte Fenster zum Beispiel. Aber da sind wir uns komplett einig, wenn wir so ein Hochwasser kriegen, wie wir das jetzt hatten, dann würde auch das nix bringen.“
In Leipzig blättert Christian Kuhlicke in seinen Unterlagen. Nach der Flut im Ahrtal haben er und seine Kollegen vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung erneut einen Aufruf veröffentlicht: „Fünf Prinzipien für klimasichere Kommunen und Städte“. Zwei Dutzend Wissenschaftler fordern, die Klimasicherheit von Gemeinden und Städten auf ein neues Fundament zu stellen. Und sie den neuen Wetterdynamiken anzupassen.
„Wir wollten das wesentlich stärker in den öffentlichen Raum, in den politischen Raum spielen und auch dort verankern.“
Ein bundesweiter Weck- und Warnruf. Auch gegen die Hochwasserdemenz. Denn viele der Forderungen sind altbekannt, schreiben die Wissenschaftler. Sie wurden bereits vor 20 Jahren formuliert. Und finden sich auch im Strategiepapier von 2013. Christian Kuhlicke hofft, dass im Ahrtal die Botschaft diesmal ankommt.
„Dort wo es geht, Gebäude hochwasserangepasst wieder aufbauen. Dort wo es geht, die Brücken zu erhöhen, dass mehr Wasser unten durchfließen kann, dass sich nichts aufstaut. Dort wo es geht, vielleicht auch mehr Raum für Überschwemmungsflächen geben, dort wo es geht. Macht man im Augenblick allerdings auch nicht systematisch oder so, dass man den großen Plan im Hintergrund sieht.“
Das Ahrtal als Modellregion für Deutschland?
Den wird es aber brauchen, um das Ahrtal zu einer Modellregion für einen klimasicheren Umbau zu machen. Zurzeit diskutieren Gemeinden und Kreise in einer sogenannten “Hochwasserpartnerschaft” über ein gemeinsames Schutzkonzept. Doch noch fehlt eine umfassende Planung, die die Maßnahmen über die Gemeinde-, Kreis- bis hin zur Landesebene verzahnt, sagt Kuhlicke.
„Es gilt, Institutionen und Regelungen zu schaffen, die dazu führen, dass diese Erinnerungen nicht beim Einzelnen, sondern in allen relevanten Bereich wachgehalten wird, ja. Und da gibt es natürlich schon Veränderungen.“
Derweil arbeiten fast alle Bundesländer an der Verbesserung der Starkregenvorhersage, der Bund hat 90 Millionen Euro für ein Sirenenprogramm zur Verfügung gestellt. Einige der Warnanlagen wurden in den letzten Wochen auch im Ahrtal montiert. Eine erste Maßnahme für einen besseren Schutz vor dem nächsten Hochwasser:
„Warnung ist wirklich wichtig. Das ist der Punkt, wo man Leben mit retten kann. So ein Tal wie das Ahrtal muss eigentlich frühzeitig vorher komplett evakuiert werden. Wir reden nicht nur über: Wann fällt wie viel Wasser zu welchem Zeitraum. Sondern was bedeutet es für jeden Einzelnen.
Wo muss ich hin, wie komme ich raus, wie komme ich an Informationen ran. Das ist ein System, das muss eingeübt werden, das muss eingespielt werden, das muss routiniert werden. Wir müssen natürlich auch über Warnübungen und Evakuierungsübungen reden. Also man sieht es schon, es ist eigentlich ein richtiger Kulturwandel, der im Hintergrund stattfinden müsste.“
Autor: Ernst-Ludwig von Aster
Sprecherin: Eva Kryll
Technik: Alexander Brennecke
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Gerhard Schröder