Höchste Zeit, sich zu besinnen
Wer nach Individualismus strebt, erfüllt eigentlich nur die Erwartungen der Gesellschaft, findet die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle. Sie rät in ihrem Buch, mit dem Leben innezuhalten und mit dem Nachdenken anzufangen.
Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle sieht den modernen Menschen in einer prekären Zwickmühle: Die Welt dreht sich immer schneller, die Leistungsanforderungen steigen, private Schutzräume gibt es kaum noch, so dass uns unser Leben zusehends zu entgleiten droht. Inmitten dieser Entfremdungsszenarien aber erleben wir gleichzeitig eine enorme Erhöhung des Individuums: Wir wollen uns selbst verwirklichen, unser wahres Ich zum Ausdruck bringen, machen Psychotherapien, basteln an unserer Karriere - und wiegen uns dabei im Glauben, selbstbestimmt und frei zu sein. In Wahrheit aber, meint Bennent-Vahle, verfehlt sich der Mensch gerade durch seine "selbstbezogene Nabelschau". Vergeblich jagt er einem authentischen Kern hinterher, den es möglicherweise gar nicht gibt. So erfüllt er durch sein zwanghaftes Streben nach Entfaltung genau das, was die Optimierungs- und Wachstumsgesellschaft von ihm verlangt.
Höchste Zeit also, so Bennent-Vahle, sich zu besinnen. Und philosophisch über das heutige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nachzudenken. In Abhandlungen über Liebe, Sexualität, Erziehung, Altern und Einsamkeit geht die Autorin, die eine philosophische Praxis betreibt und an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Aachen lehrt, diesem Verhältnis nach.
Was sie dabei zu Tage fördert, klingt leider oft altbekannt. So heißt es etwa im Kapitel über das Altern: "Ewige Jugend lautet die Verheißung, doch dahinter lauert - wie mir scheint - eine heftige, uneingestandene Abneigung gegen Alter und Verfall." Es ist auch nicht sehr geschickt, fiktive Alltagssituationen zum Ausgangspunkt des Nachdenkens zu machen: Pappkameraden aufzubauen, um sie später umzustoßen, ist kein philosophisches Kunststück.
Doch insgesamt lohnt diese Annäherung an das Problem von Freiheit und Selbstbestimmung. Der große Irrtum der Gegenwart liege darin, so die Autorin, das Individuum zum alleinigen Akteur seiner Selbstwerdung machen zu wollen. Tatsächlich verhalte es sich so: Nur wer sich "vom anderen her" begreift, ist wirklich frei. Dieser andere ist nicht nur das konkrete Gegenüber, das die eigene Existenz spiegelt, sondern auch die Gesellschaft. Von deren Erwartungen kann sich der Einzelne niemals ganz lösen. Anstatt also der Illusion eines unverfälschten Ichs anzuhängen und ständig an seiner Verwirklichung zu scheitern, gehe es eher darum, gesellschaftliche Rollen umzudeuten und zu gestalten.
Dass allerdings auch die Möglichkeiten der Rolleninterpretation und vor allem der Rollenvereinbarkeit Grenzen haben, illustriert Heidemarie Bennent-Vahle - die nicht nur Philosophin ist, sondern auch Mutter dreier Kinder - durch eigene Erfahrung: Die "Erfordernisse der Kinderwelt" einerseits und die "Logik des Karrieredenkens" andererseits seien für sie nicht vor allem praktisch schwierig miteinander zu vereinbaren, sondern vor allem in psychischer Hinsicht. Schade, dass Bennent-Vahle diesen Bruch lediglich feststellt. Gerade das Weiterdenken an realen Konflikten wie diesem hätte eine zentrale Frage vorangebracht: Wie kann selbstbestimmtes Leben heute gelingen?
Besprochen von Svenja Flaßpöhler
Heidemarie Bennent-Vahle: Glück kommt von Denken. Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen
Freiburg/Basel/Berlin 2011
279 Seiten, 19,95 Euro
Links zum Thema
Infos zum Buch von Heidemarie Bennent-Vahle
Webseite der Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle
Höchste Zeit also, so Bennent-Vahle, sich zu besinnen. Und philosophisch über das heutige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nachzudenken. In Abhandlungen über Liebe, Sexualität, Erziehung, Altern und Einsamkeit geht die Autorin, die eine philosophische Praxis betreibt und an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Aachen lehrt, diesem Verhältnis nach.
Was sie dabei zu Tage fördert, klingt leider oft altbekannt. So heißt es etwa im Kapitel über das Altern: "Ewige Jugend lautet die Verheißung, doch dahinter lauert - wie mir scheint - eine heftige, uneingestandene Abneigung gegen Alter und Verfall." Es ist auch nicht sehr geschickt, fiktive Alltagssituationen zum Ausgangspunkt des Nachdenkens zu machen: Pappkameraden aufzubauen, um sie später umzustoßen, ist kein philosophisches Kunststück.
Doch insgesamt lohnt diese Annäherung an das Problem von Freiheit und Selbstbestimmung. Der große Irrtum der Gegenwart liege darin, so die Autorin, das Individuum zum alleinigen Akteur seiner Selbstwerdung machen zu wollen. Tatsächlich verhalte es sich so: Nur wer sich "vom anderen her" begreift, ist wirklich frei. Dieser andere ist nicht nur das konkrete Gegenüber, das die eigene Existenz spiegelt, sondern auch die Gesellschaft. Von deren Erwartungen kann sich der Einzelne niemals ganz lösen. Anstatt also der Illusion eines unverfälschten Ichs anzuhängen und ständig an seiner Verwirklichung zu scheitern, gehe es eher darum, gesellschaftliche Rollen umzudeuten und zu gestalten.
Dass allerdings auch die Möglichkeiten der Rolleninterpretation und vor allem der Rollenvereinbarkeit Grenzen haben, illustriert Heidemarie Bennent-Vahle - die nicht nur Philosophin ist, sondern auch Mutter dreier Kinder - durch eigene Erfahrung: Die "Erfordernisse der Kinderwelt" einerseits und die "Logik des Karrieredenkens" andererseits seien für sie nicht vor allem praktisch schwierig miteinander zu vereinbaren, sondern vor allem in psychischer Hinsicht. Schade, dass Bennent-Vahle diesen Bruch lediglich feststellt. Gerade das Weiterdenken an realen Konflikten wie diesem hätte eine zentrale Frage vorangebracht: Wie kann selbstbestimmtes Leben heute gelingen?
Besprochen von Svenja Flaßpöhler
Heidemarie Bennent-Vahle: Glück kommt von Denken. Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen
Freiburg/Basel/Berlin 2011
279 Seiten, 19,95 Euro
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