Hölderlins letzte Nacht
Peter Schünemanns Thema sind die Dichter. Über Goethe, natürlich, hat er geschrieben, über Büchner, über Koeppen oder die Expressionisten. Es ist keine Sekundärliteratur, sondern fast ein eigenes Genre, Traumgeschichten, phantasmagoriengleiche Erzählungen.
Er hat dabei einen ganz eigenartigen Stil entwickelt, indem er Zitate, Fragmente, Satzteile von damals mit dem Heute vereint, dem heutigen Wissen und Bewusstsein; von "Echoräumen" war in der Kritik zu Recht die Rede.
Schünemanns neues Buch "Scardanellis Gedächtnis" handelt von dem Dichter Friedrich Hölderlin, genauer von der letzten Nacht vor seinem Tod am 7. Juni 1843. Den Namen Scardanelli hat Hölderlin sich selbst gegeben, wie auch andere klingende Pseudonyme, als er - schon wahnsinnig geworden - seinen schwäbischen Namen nicht mehr ertrug. Kurz nach der Jahrhundertwende um 1800, mit circa 30 Jahren, brach die Geisteskrankheit aus, auf der Heimwanderung aus Bordeaux.
1802 schon wurde das "Ende in vollkommener Hoffnungslosigkeit" (Schünemann in einem angehängten Essay) absehbar, ab 1807 nahmen ihn der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer und nach dessen Tod die Tochter Lotte in ihre Obhut, dort, im Turm, blieb er die ganze zweite Hälfte seines Lebens bis zu dieser Nacht im Juni 1843, die hier imaginiert wird.
Das Gedicht "Hälfte des Lebens", eines seiner schönsten, schrieb er wahrscheinlich 1803, in jener Krisenzeit zwischen Normalität und Wahn, aber was heißt schon "Normalität" bei einem wie ihm, der schon vorher dichtete: "Ich verstand die Stille des Äthers,/ Der Menschen Worte verstand ich nie". Das zeigte den Abstand, den Abgrund zwischen ihm und den anderen, der schon immer bestand.
Es ist kaum möglich, das Buch zusammenzufassen, denn Scardanellis alias Hölderlins Gedächtnis am Ende seines Lebens ist chaotisch. Die Zeiten sind miteinander verschränkt, die Erinnerungen vielfach gebrochen. Die Gegenwart existiert fast nur in banalen Dingen, hier geht es um Vergangenheit und Zukunft.
Hölderlin erinnert sich an Menschen, denen er begegnet ist, Orte, die er besucht, und Reisen, die er unternommen hat. Und das Zukünftige? Nicht nur gemahnt die "stumme Gestalt" im Boot am Anfang an Charon, den griechischen Fährmann in die Unterwelt, nicht nur sieht er also seinen Tod voraus, sondern auch den zukünftigen desolaten Zustand der Welt.
Ohne eine gewisse Kenntnis von Hölderlins Leben bereitet Schünemanns Buch nur halbe Freude. Dass die Mutter nach des Vaters frühem Tod zum zweiten Mal heiratete (den Bürgermeister von Nürtingen), dass Hölderlin Pfarrer werden sollte und deswegen in Denkendorf und Maulbronn die Klosterschule besuchte, dass er an vielen Orten Hauslehrer ("Hofmeister") war, sich in Frankfurt in die Dame des Hauses ("Diotima") verliebte und so weiter, und so fort, all das muss man wissen, um zum Beispiel einfach nur die Namen von Orten oder Personen einordnen zu können.
Schünemann schreibt wie in einer Art klarem Rausch, in hölderlinscher visionärer Sprache, und die meisten müssen sein Buch wie ein Gedicht lesen, in dem Stimmung, Melancholie, Tragik wichtiger sind als promptes Verständnis. Trösten müssen sie sich mit Hölderlins Versen selbst: "Ich verstand die Stille des Äthers,/ Der Menschen Worte verstand ich nie".
Rezensiert von Peter Urban-Halle
Peter Schünemann: Scardanellis Gedächtnis
C. H. Beck, München 2007, 112 Seiten, 14,90 Euro
Schünemanns neues Buch "Scardanellis Gedächtnis" handelt von dem Dichter Friedrich Hölderlin, genauer von der letzten Nacht vor seinem Tod am 7. Juni 1843. Den Namen Scardanelli hat Hölderlin sich selbst gegeben, wie auch andere klingende Pseudonyme, als er - schon wahnsinnig geworden - seinen schwäbischen Namen nicht mehr ertrug. Kurz nach der Jahrhundertwende um 1800, mit circa 30 Jahren, brach die Geisteskrankheit aus, auf der Heimwanderung aus Bordeaux.
1802 schon wurde das "Ende in vollkommener Hoffnungslosigkeit" (Schünemann in einem angehängten Essay) absehbar, ab 1807 nahmen ihn der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer und nach dessen Tod die Tochter Lotte in ihre Obhut, dort, im Turm, blieb er die ganze zweite Hälfte seines Lebens bis zu dieser Nacht im Juni 1843, die hier imaginiert wird.
Das Gedicht "Hälfte des Lebens", eines seiner schönsten, schrieb er wahrscheinlich 1803, in jener Krisenzeit zwischen Normalität und Wahn, aber was heißt schon "Normalität" bei einem wie ihm, der schon vorher dichtete: "Ich verstand die Stille des Äthers,/ Der Menschen Worte verstand ich nie". Das zeigte den Abstand, den Abgrund zwischen ihm und den anderen, der schon immer bestand.
Es ist kaum möglich, das Buch zusammenzufassen, denn Scardanellis alias Hölderlins Gedächtnis am Ende seines Lebens ist chaotisch. Die Zeiten sind miteinander verschränkt, die Erinnerungen vielfach gebrochen. Die Gegenwart existiert fast nur in banalen Dingen, hier geht es um Vergangenheit und Zukunft.
Hölderlin erinnert sich an Menschen, denen er begegnet ist, Orte, die er besucht, und Reisen, die er unternommen hat. Und das Zukünftige? Nicht nur gemahnt die "stumme Gestalt" im Boot am Anfang an Charon, den griechischen Fährmann in die Unterwelt, nicht nur sieht er also seinen Tod voraus, sondern auch den zukünftigen desolaten Zustand der Welt.
Ohne eine gewisse Kenntnis von Hölderlins Leben bereitet Schünemanns Buch nur halbe Freude. Dass die Mutter nach des Vaters frühem Tod zum zweiten Mal heiratete (den Bürgermeister von Nürtingen), dass Hölderlin Pfarrer werden sollte und deswegen in Denkendorf und Maulbronn die Klosterschule besuchte, dass er an vielen Orten Hauslehrer ("Hofmeister") war, sich in Frankfurt in die Dame des Hauses ("Diotima") verliebte und so weiter, und so fort, all das muss man wissen, um zum Beispiel einfach nur die Namen von Orten oder Personen einordnen zu können.
Schünemann schreibt wie in einer Art klarem Rausch, in hölderlinscher visionärer Sprache, und die meisten müssen sein Buch wie ein Gedicht lesen, in dem Stimmung, Melancholie, Tragik wichtiger sind als promptes Verständnis. Trösten müssen sie sich mit Hölderlins Versen selbst: "Ich verstand die Stille des Äthers,/ Der Menschen Worte verstand ich nie".
Rezensiert von Peter Urban-Halle
Peter Schünemann: Scardanellis Gedächtnis
C. H. Beck, München 2007, 112 Seiten, 14,90 Euro