Höllenritt durch ein absurdes Berlin
Ein schnöseliger Jungmanager, ein gescheiterter Drehbuchautor und das Kreativ-Milieu von Berlin Mitte: Thomas Melles Romandebüt ist heißlaufende Literatur zwischen Party und Psychose. Es erzählt von Einsamen, Verstörten, Verrückten - und ihrem selbstquälerischem urbanen Hedonismus.
Seit seinem Prosaband "Raumforderung" (2007) steht Thomas Melle im Verdacht des Kraftgenies mit kreativem Kontrollverlust. Vier Jahre hat er sich Zeit gelassen mit seinem Debütroman. "Sickster" ist heißlaufende Literatur zwischen Party und Psychose.
Schauplatz ist Berlin-Mitte, Tummelplatz der (Möchtegern-)Kreativen und der Agenturtypen. Mittendrin ein schnöseliger, frauenverschleißender, sex- und alkoholsüchtiger Jungmanager: Thorsten Kühnemund arbeitet in der Zentrale eines internationalen Mineralölkonzerns, beschäftigt sich mit Kundenbindungsprogrammen und Gewinnoptimierung in Tankstellenshops, und man hört ihm fasziniert zu, wenn er über das "Zoning" von Warengruppen oder die "Ermittlung optimaler Gangstrukturen" durch die Auswertung der "Kundenlaufrichtungen" doziert. Kühnemund steht ständig unter Strom beziehungsweise Red-Bull-Wodka.
Ein exaltierter Leidensmensch ist Magnus Taue, Zögling eines Bonner Jesuiteninternats, als Drehbuchautor gescheitert. Sein Geld verdient er als PR-Redakteur der Mitarbeiterzeitung des Mineralölkonzerns – was Melle weitere Gelegenheiten zu zynisch gewürzten Darstellungen der polierten Businesswelt bietet. Die dritte Hauptfigur ist Laura, die Freundin Kühnemunds. Sie stagniert an einer wissenschaftlichen Arbeit und rutscht in die psychische Krankheit. Es tut weh, wenn man liest, wie sie sich immer wieder eine Wunde an der Hand aufreißt.
330 Seiten überreizte Sinne, ungeschützte Empfindlichkeit und zerrissene Figuren, Menschen, die sich mit Dreißig nicht ins existentielle Rollenfach finden wollen. Eine Gefahr besteht allerdings darin, dass der Roman, statt einen Weltzustand anzuklagen, in der selbstverschuldeten Misere hysterischer Hipster wühlt. "Ich muss doch ein Gleißen sein und tausend Geschosse, die sich in alle Himmelsrichtungen verlieren" – ja, wer so sein muss, soll sich nicht wundern.
Der selbstquälerische urbane Hedonismus wirkt in den langatmigen Beschreibungen fiebriger Party-Aktivitäten bisweilen wie "Axolotl Roadkill" für Fortgeschrittene. Man bewundert einerseits ausgefeilte Wahrnehmungsekstasen, liest sich andererseits durch öde Strecken vor allem im Mittelteil und stolpert immer wieder über Formulierungen, in denen Melles beschreibungsmächtiger Kraftstil abstürzt ins Klischeehafte oder gar in die Stilblüte.
Aus Hipstern werden Sickster. Und das ist dann allerdings furios, wie die letzten psychotischen Tage Magnus Taues vor der Einlieferung in die geschlossene Abteilung der Charité geschildert werden, wo er Laura wiedertrifft. So ist seit Franz Biberkopf und seiner Panik vor den abrutschenden Dächern keiner mehr durch Berlin getaumelt. Wie die Stadt auf Taue losgeht, wie er sich den auf ihn losfeuernden Reizen immer weniger erwehren kann, wie sich die Gesichter der Menschen ringsum verfratzen und die Außenwelt zu paranoiden Konfigurationen zusammenschließt: Das ist beindruckend dargestellt. Ein Höllenritt durch ein absurdes Berlin, voller Einsamer, Verstörter, Verrückter.
Melle hat einen ähnlichen Anspruch wie Rainald Goetz: Literatur soll einerseits überlegen diskursbewusst sein, andererseits ganz lebensunmittelbar und schmerzend wahr. Dieser Spagat führt in die hybride Selbstüberforderung des Autors. Und zu einem Buch mit großen Schwächen und großen Stärken.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Thomas Melle: Sickster. Roman
Rowohlt Verlag, Hamburg 2011
335 Seiten, 19,95 Euro
Schauplatz ist Berlin-Mitte, Tummelplatz der (Möchtegern-)Kreativen und der Agenturtypen. Mittendrin ein schnöseliger, frauenverschleißender, sex- und alkoholsüchtiger Jungmanager: Thorsten Kühnemund arbeitet in der Zentrale eines internationalen Mineralölkonzerns, beschäftigt sich mit Kundenbindungsprogrammen und Gewinnoptimierung in Tankstellenshops, und man hört ihm fasziniert zu, wenn er über das "Zoning" von Warengruppen oder die "Ermittlung optimaler Gangstrukturen" durch die Auswertung der "Kundenlaufrichtungen" doziert. Kühnemund steht ständig unter Strom beziehungsweise Red-Bull-Wodka.
Ein exaltierter Leidensmensch ist Magnus Taue, Zögling eines Bonner Jesuiteninternats, als Drehbuchautor gescheitert. Sein Geld verdient er als PR-Redakteur der Mitarbeiterzeitung des Mineralölkonzerns – was Melle weitere Gelegenheiten zu zynisch gewürzten Darstellungen der polierten Businesswelt bietet. Die dritte Hauptfigur ist Laura, die Freundin Kühnemunds. Sie stagniert an einer wissenschaftlichen Arbeit und rutscht in die psychische Krankheit. Es tut weh, wenn man liest, wie sie sich immer wieder eine Wunde an der Hand aufreißt.
330 Seiten überreizte Sinne, ungeschützte Empfindlichkeit und zerrissene Figuren, Menschen, die sich mit Dreißig nicht ins existentielle Rollenfach finden wollen. Eine Gefahr besteht allerdings darin, dass der Roman, statt einen Weltzustand anzuklagen, in der selbstverschuldeten Misere hysterischer Hipster wühlt. "Ich muss doch ein Gleißen sein und tausend Geschosse, die sich in alle Himmelsrichtungen verlieren" – ja, wer so sein muss, soll sich nicht wundern.
Der selbstquälerische urbane Hedonismus wirkt in den langatmigen Beschreibungen fiebriger Party-Aktivitäten bisweilen wie "Axolotl Roadkill" für Fortgeschrittene. Man bewundert einerseits ausgefeilte Wahrnehmungsekstasen, liest sich andererseits durch öde Strecken vor allem im Mittelteil und stolpert immer wieder über Formulierungen, in denen Melles beschreibungsmächtiger Kraftstil abstürzt ins Klischeehafte oder gar in die Stilblüte.
Aus Hipstern werden Sickster. Und das ist dann allerdings furios, wie die letzten psychotischen Tage Magnus Taues vor der Einlieferung in die geschlossene Abteilung der Charité geschildert werden, wo er Laura wiedertrifft. So ist seit Franz Biberkopf und seiner Panik vor den abrutschenden Dächern keiner mehr durch Berlin getaumelt. Wie die Stadt auf Taue losgeht, wie er sich den auf ihn losfeuernden Reizen immer weniger erwehren kann, wie sich die Gesichter der Menschen ringsum verfratzen und die Außenwelt zu paranoiden Konfigurationen zusammenschließt: Das ist beindruckend dargestellt. Ein Höllenritt durch ein absurdes Berlin, voller Einsamer, Verstörter, Verrückter.
Melle hat einen ähnlichen Anspruch wie Rainald Goetz: Literatur soll einerseits überlegen diskursbewusst sein, andererseits ganz lebensunmittelbar und schmerzend wahr. Dieser Spagat führt in die hybride Selbstüberforderung des Autors. Und zu einem Buch mit großen Schwächen und großen Stärken.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Thomas Melle: Sickster. Roman
Rowohlt Verlag, Hamburg 2011
335 Seiten, 19,95 Euro