Hörbuch erzählt Geschichte der Verschwundenen in Argentinien
Aus der Sicht des Mädchens Perla, das erst langsam erkennt, dass es bei fremden Eltern aufwächst, erzählt die Bestsellerautorin Carolina De Robertis von der dunklen Zeit der Militärjunta in Argentinien. Die preisgekrönte Sprecherin Sascha Icks leiht der Hauptfigur ihre Stimme auf dem spannenden Hörbuch.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Er tauchte am 2. März 2001 auf, kurz nach Mitternacht. Ich war allein. Aus dem Wohnzimmer kam ein leises Geräusch, eine Art Kratzen wie Fingernägel auf hartem Fußboden, dann nichts mehr. Ich bog um den Türpfosten und da lag er – zusammengerollt auf der Seite und tropfte den Teppich voll. Er war nackt. An seiner aschfahlen nassen Haut klebte Seetang."
Der nackte, tropfnasse Mann auf dem Wohnzimmerteppich kommt aus dem Meer. Und für Perla, die als einziges Kind gut situierter Eltern wohl behütet in Buenos Aires aufgewachsen ist, bricht eine Welt zusammen. Nach und nach wird der Psychologiestudentin Perla klar, dass sie nicht die ist, die sie zu sein glaubte.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Der Klang seiner Stimme umgab mich (..). Da war eine Frau, die ich hätte werden können, wenn ich immer in Reichweite dieser Stimme gelebt hätte, wenn dieser Mann auf der Welt geblieben wäre, um mich von Anfang an zu halten. Diese Frau würde nie existieren."
Als Ich-Erzählerin ist Perla dem Hörer sehr nahe, man folgt ihr bei der Suche nach der verdrängten Wahrheit: Der Mann, den sie 22 Jahre lang als ihren Vater liebte, war verstrickt in die Gräuel der Militärdiktatur.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Perla, Perlita" – sagte meine Mutter – "glaube nicht die Lügen über die Verschwundenen. Du wirst in der Schule Sachen hören und ich sage dir: Sie sind nicht wahr, Perlita. (..) Ich nickte und meine strammen Zöpfe wischten über mein Kleid. ( ... ) Ich war sechs Jahre alt, die Demokratie war im Begriff, eine zu werden. Und ja, es gab jetzt Leute, die Marineoffiziere wie Papa nicht mochten."
Sascha Icks leiht Perla ihre Stimme. Die Schauspielerin, mit dem Hörspielpreis der Akademie der Künste ausgezeichnet, liest großartig: Sie kriecht dem Hörer ins Ohr. So präsent wird Perlas innere Zerrissenheit, dass es stellenweise kaum zu ertragen ist. Gleichzeitig kann man sich von diesem Hörbuch nur schwer losreißen:
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Seine Augen sind geschlossen. Aber er schläft nicht. Er erinnert sich an die Zeit, als er keine Augen hatte. Sie stülpten ihm eine Kapuze über, eine simple Methode, jemandem die Augen zu nehmen. Er trug die Kapuze Tag und Nacht und Tag und Nacht gab es nicht. Es gab nur Dunkel. Das Dunkel war überall um ihn herum, in der Luft, wenn er von der Decke baumelte, in dem kalten Wasser, mit dem sie ihn im Schlaf übergossen, im Stahlgeflecht des elektrischen Tischs."
Sebastian Rudolph wurde für seinen "Faust" am Hamburger Thalia von der Zeitschrift "Theater heute" zum Schauspieler des Jahres 2012 gewählt. Er ist der Mann aus dem Meer, einer der "Verschwundenen" aus der Zeit der Militärdiktatur. In Perlas Elternhaus erinnert er sich an Folter und Tod. An das Schicksal seiner damals hoch schwangeren Frau und an den Tag, an dem er mit vielen anderen aus einem Flugzeug noch lebend in ein nasses Grab geworfen wurde.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Plötzlich ein metallenes Gleitgeräusch, das Tosen von Luft und die Luke zum Himmel war offen. Die Körper wichen von der offenen Luke zurück wie ein einziger Körper. Er fühlte das Rudern vieler Gliedmaßen, auch seiner eigenen, ein langsames sinnloses Wühlen. ( ... ) Er lag auf den Knien am Rand der Luke und der Schubser war fast schon sanft, wie um einen Blinden durchs Dunkel zu dirigieren. Und dann fiel er kopfüber in den Himmel. ( ... ) Das Wasser erstreckt sich unter ihm weit und ruhig. Eine dichte, dunkle Masse – jetzt durchbrochen von einem fallenden Körper, noch einem, nackte Körper durchbrechen die Wasseroberfläche und das Wasser wirbelt und spritzt empor und nimmt sie auf."
Sebastian Rudolph berichtet diese grausige Geschichte in einem zweiten Erzählstrang nicht wütend, sondern sanft und abgeklärt und voller Schmerz. Ist diese Gestalt, dieser von den Toten Wiederauferstandene, magischer Realismus? Ein literarischer Kunstgriff in der Tradition eines Garcia Marquez – oder eine Fantasie Perlas, die schon lange gespürt hatte, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt?
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Der einzige Mensch, der zuverlässig hinter meine Masken blickte, war Gabriel. ( ... ) Ich hatte Professoren, Freunde, meine Eltern und deren Freunde zu täuschen vermocht, alle – außer Gabriel. Ganz am Anfang hatte ich ihm einmal erklärt, ich müsse jetzt gehen, um für eine Psychologieklausur zu lernen. Er sagte: ‘All der viele Freud und trotzdem siehst du deine eigenen Dämonen nicht?’"
Carolina De Robertis hat für "Perla" viele Schicksale von tatsächlich Verschwundenen recherchiert. Etwa 500 Kinder wurden in der Gefangenschaft geboren, ihren Müttern entrissen und Offiziersfamilien übergeben. Stellvertretend für sie alle tastet Perla sich an ihre wahre Identität heran. Ein schmerzvoller Prozess, den dieses Hörbuch intensiv und anrührend begleitet.
Besprochen von Vanja Budde
Der nackte, tropfnasse Mann auf dem Wohnzimmerteppich kommt aus dem Meer. Und für Perla, die als einziges Kind gut situierter Eltern wohl behütet in Buenos Aires aufgewachsen ist, bricht eine Welt zusammen. Nach und nach wird der Psychologiestudentin Perla klar, dass sie nicht die ist, die sie zu sein glaubte.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Der Klang seiner Stimme umgab mich (..). Da war eine Frau, die ich hätte werden können, wenn ich immer in Reichweite dieser Stimme gelebt hätte, wenn dieser Mann auf der Welt geblieben wäre, um mich von Anfang an zu halten. Diese Frau würde nie existieren."
Als Ich-Erzählerin ist Perla dem Hörer sehr nahe, man folgt ihr bei der Suche nach der verdrängten Wahrheit: Der Mann, den sie 22 Jahre lang als ihren Vater liebte, war verstrickt in die Gräuel der Militärdiktatur.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Perla, Perlita" – sagte meine Mutter – "glaube nicht die Lügen über die Verschwundenen. Du wirst in der Schule Sachen hören und ich sage dir: Sie sind nicht wahr, Perlita. (..) Ich nickte und meine strammen Zöpfe wischten über mein Kleid. ( ... ) Ich war sechs Jahre alt, die Demokratie war im Begriff, eine zu werden. Und ja, es gab jetzt Leute, die Marineoffiziere wie Papa nicht mochten."
Sascha Icks leiht Perla ihre Stimme. Die Schauspielerin, mit dem Hörspielpreis der Akademie der Künste ausgezeichnet, liest großartig: Sie kriecht dem Hörer ins Ohr. So präsent wird Perlas innere Zerrissenheit, dass es stellenweise kaum zu ertragen ist. Gleichzeitig kann man sich von diesem Hörbuch nur schwer losreißen:
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Seine Augen sind geschlossen. Aber er schläft nicht. Er erinnert sich an die Zeit, als er keine Augen hatte. Sie stülpten ihm eine Kapuze über, eine simple Methode, jemandem die Augen zu nehmen. Er trug die Kapuze Tag und Nacht und Tag und Nacht gab es nicht. Es gab nur Dunkel. Das Dunkel war überall um ihn herum, in der Luft, wenn er von der Decke baumelte, in dem kalten Wasser, mit dem sie ihn im Schlaf übergossen, im Stahlgeflecht des elektrischen Tischs."
Sebastian Rudolph wurde für seinen "Faust" am Hamburger Thalia von der Zeitschrift "Theater heute" zum Schauspieler des Jahres 2012 gewählt. Er ist der Mann aus dem Meer, einer der "Verschwundenen" aus der Zeit der Militärdiktatur. In Perlas Elternhaus erinnert er sich an Folter und Tod. An das Schicksal seiner damals hoch schwangeren Frau und an den Tag, an dem er mit vielen anderen aus einem Flugzeug noch lebend in ein nasses Grab geworfen wurde.
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Plötzlich ein metallenes Gleitgeräusch, das Tosen von Luft und die Luke zum Himmel war offen. Die Körper wichen von der offenen Luke zurück wie ein einziger Körper. Er fühlte das Rudern vieler Gliedmaßen, auch seiner eigenen, ein langsames sinnloses Wühlen. ( ... ) Er lag auf den Knien am Rand der Luke und der Schubser war fast schon sanft, wie um einen Blinden durchs Dunkel zu dirigieren. Und dann fiel er kopfüber in den Himmel. ( ... ) Das Wasser erstreckt sich unter ihm weit und ruhig. Eine dichte, dunkle Masse – jetzt durchbrochen von einem fallenden Körper, noch einem, nackte Körper durchbrechen die Wasseroberfläche und das Wasser wirbelt und spritzt empor und nimmt sie auf."
Sebastian Rudolph berichtet diese grausige Geschichte in einem zweiten Erzählstrang nicht wütend, sondern sanft und abgeklärt und voller Schmerz. Ist diese Gestalt, dieser von den Toten Wiederauferstandene, magischer Realismus? Ein literarischer Kunstgriff in der Tradition eines Garcia Marquez – oder eine Fantasie Perlas, die schon lange gespürt hatte, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt?
Ausschnitt aus Hörbuch "Perla": "Der einzige Mensch, der zuverlässig hinter meine Masken blickte, war Gabriel. ( ... ) Ich hatte Professoren, Freunde, meine Eltern und deren Freunde zu täuschen vermocht, alle – außer Gabriel. Ganz am Anfang hatte ich ihm einmal erklärt, ich müsse jetzt gehen, um für eine Psychologieklausur zu lernen. Er sagte: ‘All der viele Freud und trotzdem siehst du deine eigenen Dämonen nicht?’"
Carolina De Robertis hat für "Perla" viele Schicksale von tatsächlich Verschwundenen recherchiert. Etwa 500 Kinder wurden in der Gefangenschaft geboren, ihren Müttern entrissen und Offiziersfamilien übergeben. Stellvertretend für sie alle tastet Perla sich an ihre wahre Identität heran. Ein schmerzvoller Prozess, den dieses Hörbuch intensiv und anrührend begleitet.
Besprochen von Vanja Budde
Carolina De Robertis: "Perla",
5 CDs, 390 Min.,
Gelesen von Sascha Icks und Sebastian Rudolph,
aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Hörbuch Hamburg, Hamburg 2013, 19,99 Euro
5 CDs, 390 Min.,
Gelesen von Sascha Icks und Sebastian Rudolph,
aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Hörbuch Hamburg, Hamburg 2013, 19,99 Euro
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