Willy Brandt: "Mehr Demokratie wagen. Reden und Interviews"
Ausgewählt von Dorothee Meyer-Kahrweg
5 CDs, Laufzeit 6 Stunden
Der Hörverlag 2013, 19,99 Euro
Gewählt, nicht erwählt
Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 geworden. Neben neuen Sachbüchern gibt es zwei Hörbücher über sein Leben und Wirken. Zu hören ist in Reden und Interviews ein charismatischer Politiker mit Sendungsbewusstsein.
"Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir sind entschlossen, die Sicherheit der Bundesrepublik und den Zusammenhalt der deutschen Nation zu wahren, den Frieden zu erhalten ..."
28. Oktober 1969. Ein historischer Tag. Willy Brandt, der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik, gibt seine Regierungserklärung ab. Sie steckt voller Aufbruchsstimmung und voller Reformideen – wer sie heute hört, kann nachvollziehen, warum viele in Deutschland damals so große Hoffnungen in Brandt gesetzt hatten:
"Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen ..."
Die Regierungserklärung dauerte rund 90 Minuten – und lässt sich nun auf dem Hörbuch des Hörverlages in voller Länge nachverfolgen.
"Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte. Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen."
Dorothee Meyer-Kahrweg hat auf 5 CDs-Reden und Interviews ausgewählt, die für das Leben und Wirken Willy Brandts stehen. Beginnend 1953 – eine Bundestagsdebatte zum Aufstand in der DDR am 17. Juni – endend am 10. November 1989, mit Brandts Rede auf der Kundgebung zum Mauerfall vor dem Schöneberger Rathaus und einem Interview mit dem Deutschlandfunk am gleichen Tag:
"Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört."
Die Originaltöne werden jeweils mit kurzen fachkundigen Texten eingeleitet. Und so kann man den Aufstieg Brandts verfolgen, seine Zeit als Berliner Bürgermeister, in die auch der Mauerbau fiel, die neue Ostpolitik, die er als Bundeskanzler gegen große Widerstände durchsetzte und für die er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Mit "Mehr Demokratie wagen" ist Dorothee Meyer-Karweg eine eindrucksvolle Dokumentation gelungen. Zu hören ist ein charismatischer Politiker mit Sendungsbewusstsein, der, auch das ist zu hören, von seiner eigenen Bedeutung schon immer überzeugt schien. Was fehlt, sind die Stimmen der Gegner ‒ die hat dafür Jürgen Roth. Er bildet in seinem Hörbuch "Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte" auch die Anfeindungen ab, denen Willy Brandt auf seinem Weg immer wieder ausgesetzt war:
"Herr Brandt soll doch einmal sagen, was er in den 30er-Jahren getrieben hat! Auf welcher Seite er im Spanischen Bürgerkrieg war!“
… wird Franz-Josef Strauß noch 1980 auf Kundgebungen hetzen.
Auch die schwierigen Monate vor Brandts Rücktritt 1974 werden dicht nacherzählt:
"Zu allem Überfluss plustert sich Günter Grass – den Willy Brandt im engsten Mitarbeiterkreis einen Besserwisser ruft – im Fernsehen auf: 'FDP und SPD als Regierungsparteien sind einem schlafmützigen Trott verfallen. Unterdessen hat sich Willy Brandt wieder einmal in die Außenpolitik geflüchtet.' Das ist reiner Quatsch, aber die dumm-mediale Öffentlichkeit verbreitet ihn weiter. Der Spiegel titelt: Das Monument bröckelt."
Jürgen Roth ist bekannt für seine respektlos-bissigen Audio-Portraits von Politikern der alten Garde, Strauß, Stoiber, Wehner, Schmidt. Keiner bekommt von ihm einen Heiligenschein, auch Brandt nicht: Brandt war Anti-Kommunist, gar ein Nationalist, weil er sich nach dem Krieg gegen die These von der Kollektivschuld der Deutschen wandte, weil er gegen den Mauerbau war und weil er sich immer wieder für die Wiedervereinigung stark machte – so die Argumentation von Roth.
"Noch 1970 wird Brandt fragen: 'Gibt es für irgendeines unserer Nachbarvölker eine blutende Grenze, so wie sie uns aufgezwungen ist?' Die organologische Metaphorik – "bluten", "Wunde", "widernatürlich" und das Wort vom "Zusammenwachsen" konvergiert notabene mit Helmut Kohls "blühenden Landschaften" – hat Brandt beibehalten, bis zur Erfüllung seiner Ostpolitik, bis zum 10. November 1989."
Roth macht damit ein altes Fass wieder auf. Der Journalist Jürgen Leinemann hatte Brandt Anfang der 90er einen "grübelnden Patrioten" genannt und gegen solche Anwürfe in Schutz genommen. Es macht doch einen Unterschied, wer so über Deutschland spricht, ein rechter Politiker oder ein aktiver Antifaschist und Emigrant, einer der selbst oft als "vaterlandsloser Geselle" verschrien worden war. Aber das ist nur eine der vielen Facetten dieses ambitionierten Hörbuches. Es unterscheidet sich von seinen Vorgängern etwa über Schmidt und Stoiber, trotz ähnlich virtuoser Schnitttechnik, vor allem in einem: Es ist nicht wirklich unterhaltsam.
Die musikalische Untermalung soll wohl stehen für Brandt, den Melancholiker. Verleiht dem Hörbuch über 79 Minuten aber eine immer schwerer zu ertragende Schwere. Ein Leben inszeniert als Drama, in dem es nichts zu lachen gibt.
Jürgen Roth: "Willy Brandt. Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte"
Ein Zeitbild in Originaltönen, gesprochen von Gert Heidenreich
1 CD, Laufzeit 79 Minuten
Verlag Antje Kunstmann, München 2013, 14,95 Euro