Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften
Ungekürzte Lesung von Christian Brückner
Edition Parlando, Berlin 2014
8 CDs, 610 Minuten, 19,95 Euro
Goethes tiefster Roman
Ein tragisches Ehedrama steht im Zentrum von Goethes 1809 erschienenem Roman "Die Wahlverwandtschaften". Als Hörbuch gab es das Werk bislang nur in einer Aufnahme mit dem "König der Vorleser", Gert Westphal. Nun hat Christian Brückner nachgelegt.
Goethe selbst war der Überzeugung, dass es nicht genüge, "Die Wahlverwandtschaften" nur einmal zu lesen. Und vielleicht versteht man die Geschichte über einen Ehebruch sogar besser, wenn man sich den Roman vorlesen lässt. Als heiterer, fast beschwingter Erzähler, ergriff vor fast 30 Jahren Gert Westphal das Wort, wobei das von ihm vorgelegte Tempo bemerkenswert ist:
"Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. Sein Geschäft war eben vollendet; er legte die Gerätschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnügen."
Goethes allwissender Erzähler weiß um die Sorgen seiner Figuren. Eduard will seine Frau davon überzeugen, seinem Plan zuzustimmen, seinen Freund, den Hauptmann, einzuladen. Bei Christian Brückner erklärt Eduard Charlotte zwar bestimmt, aber dennoch jedes einzelne Wort abwägend, warum er die so idyllisch anmutenden Zweisamkeit durch Hinzuziehung eines Dritten stören will:
"Er freute sich daran in Hoffnung, dass der Frühling alles bald noch reichlicher beleben würde. 'Nur eines habe ich zu erinnern', setzte er hinzu, 'die Hütte scheint mir etwas zu eng'. 'Für uns beide doch geräumig genug', widersetzte Charlotte. 'Nun freilich', sagte Eduard, 'für einen Dritten, ist wohl auch noch Platz'. 'Warum nicht', versetzte Charlotte, 'und auch für ein Viertes'."
Ein Mann der schnellen Entschlüsse
Gert Westphal dagegen stellte Eduard als einen Mann der schnellen Entschlüsse vor, der es nicht gewohnt ist zu warten, der seinen Neigungen nachgibt, ohne sie nach allen Seiten abzuwägen:
"'Und ich will nur gestehen', fuhr Eduard fort, 'wenn mich der Postbote morgen früh nicht drängte, wenn wir uns nicht heut entschließen müssten, ich hätte vielleicht noch länger geschwiegen'."
Eduard will zwar schnell eine Entscheidung herbeiführen, aber er geht dabei – so jedenfalls interpretiert Christian Brückner jetzt dessen Beweggründe – dennoch behutsam vor. Er weiß sehr wohl, dass Charlotte denken muss, ihre Gegenwart würde Eduard nicht mehr genügen, weshalb er den Freund herbeisehnt, damit dieser ihn auf andere Gedanken bringt. Dass dadurch Gefahren heraufbeschworen werden, erläutert der Hauptmann anhand der Reaktionsweise von chemischen Elementen, die, wenn sie Wahlverwandtschaften eingehen, sich aus festen Verbindungen lösen:
"Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlass recht zu bedenken. Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflösliche scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward."
Im melancholischen Grundton des Erzählers
Es ist Charlotte, die ahnt, was sich ereignen könnte. Sie schlägt deshalb vor, als vierte Person Ottilie hinzuzuziehen. Dann könnte sich der Hauptmann mit ihr verbinden und beide würden das Verhältnis zwischen Charlotte und Eduard nicht stören. Doch der Plan scheitert. Die Menschen reagieren nicht nur anders, sondern sie beschwören ihr eigenes Unglück herauf. Eduard und Ottilie, die von einem Liebesbegehren erfasst werden, dass sie nicht zu kontrollieren wissen, finden erst nach ihrem Tod zueinander.
"Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilie und verordnete, dass niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde. [...] So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen."
Christian Brückners Interpretation des tragischen Geschehens ist überzeugend, da er das Unheil, das bereits zu Beginn des Romans über der ländlichen Szenerie liegt, zunächst nur zaghaft andeutet, um dann jener zerstörerischen Wucht Ausdruck zu verleihen, mit der die Tragödie ihren schicksalhaften Verlauf nimmt. Anders als Gert Westphal, der sich die Perspektive Eduards zu eigen macht, trifft Christian Brückner kongenial den melancholischen Grundton des von Goethe eingesetzten Erzählers.