Elisabeth Exner und Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1914
Hörbuch. Gelesen von Wolfgang Condrus und Meike Drose
Originalverlag: Galiani Berlin HC
Der Hörverlag, Hamburg 2014
6 CDs, ca. 462 Min., 24,99 Euro
Kriegsbegeisterung und dunkle Vorahnungen
So individuell wie authentisch sind die Tagebuchberichte von jungen und alten Männern und Frauen aus dem Ersten Weltkrieg. In ihrer kommentarlosen Aneinanderreihung vermitteln sie einen erschütternden, umfassenden Blick auf den Krieg.
Ausschnitt 1: "Montag, 27. Juli 1914. Josef Glaser im Zug bei Zittau:
Um neun Uhr vormittags Telegramm erhalten, folgenden Inhalts: 9. Corps mobil, sofort kommen. Nach dem Essen in Uniform geworfen. Um 3:42 Uhr abgefahren über Halle, Leipzig, Dresden, Zittau nach Reichenberg. Auf den Stationen normales Leben."
Ausschnitt 2: "Mädchen, Karlsruhe:
Abends sechs Uhr. Der Krieg ist erklärt. Ich kann es nicht glauben, kann es mir nicht vorstellen. Was heißt es, Krieg? Gott sei mit uns. Wir Menschen können nichts mehr machen. In der ganzen Stadt herrscht Begeisterung. Bei der Kriegsverkündigung sangen sie heute 'Deutschland, Deutschland über alles'."
Die Tagebuchaufzeichnungen von 35 Männern und Frauen sind in dieser "Verborgenen Chronik" des ersten Kriegsjahres versammelt: Es sind Offiziere, Sanitätshelferinnen, einfache Soldaten, Ehefrauen und Mütter. Die einen von der Propaganda berauscht und kriegsbegeistert, die anderen voll dunkler Vorahnungen und Ängste.
Ausschnitt 3: "Annemarie Pallat, Wannsee:
Trübes Wetter und trübe Aussichten: Österreich mobilisiert."
Ausschnitt 4:"Samstag, 22. August. Millie Haacke, Hamm:
Hurra, ein Hoch unseren braven Truppen, die in Brüssel einzogen, an der russischen Grenze einen Sieg errangen und die Schlacht bei Metz für uns entschieden."
Ruhig und neutral gelesen
Aus den ganz persönlichen und darum sehr vielseitigen Erinnerungen, die bislang unveröffentlicht im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen lagerten, haben Lisbeth Exner und Herbert Kapfer eine Collage montiert, vergleichbar mit Walter Kempowskis "Echolot": Dessen Sammlung von Tagebüchern, Briefen und autobiografischen Notizen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die "Verborgene Chronik 1914" wertet nicht und analysiert nicht. Unkommentiert, ruhig und neutral lesen die Schauspieler Meike Droste und Wolfgang Condrus diese Stimmen aus dem Kriegsalltag vor 100 Jahren vor. Die Euphorie der ersten Tage weicht schnell der Ernüchterung.
Ausschnitt 5: "Abmarsch in der bereits enormen Augusthitze. Um halb elf kamen wir vollständig erschöpft auf einer Anhöhe vor Senheim zu unserer Artillerie, die funkte, was möglich war."
Ausschnitt 6: "Karl Groppe, Louveigné, Belgien:
Von Ferne sahen wir schon, dass Louveigné brannte. Als wir hinkamen, bot sich uns ein schrecklicher Anblick: Die Häuser zusammengeschossen und ausgebrannt, die noch stehenden geplündert und überall entstellte Leichen."
Das aufwändig gemachte Booklet bietet eine Zeittafel, die den Kriegsverlauf 1914 mit den jeweiligen Tagebucheinträgen verbindet. Außerdem enthält es Kurzbiografien der Tagebuchschreiber, die dem Hörer dadurch noch näher rücken. Nach anfänglichen Siegen geraten die Fronten ins Stocken. Der Stellungskrieg in den Schützengräben beginnt, der sich über Jahre hin ziehen wird. Schon bis Dezember 1914 sind allein auf deutscher Seite 300.000 Soldaten gefallen.
Stimmen von allen Fronten
Ausschnitt 7: "Willi Straub bei Tellancourt, Frankreich:
Wir biwakierten immer auf dem Felde. Hier hatte eine feste Schlacht stattgefunden, hauptsächlich die Württemberger mussten hier bluten. Die Franzmänner ließen alles im Stich, viel Gepäck, Gewehre und Seitengewehre, tote Pferde, alles lag durcheinander und sah recht schauerlich aus – die Toten mit verzerrten Gesichtern und zum Teil scheußlichen Wunden, Freund und Feind nebeneinander. Als es Nacht wurde, bot sich uns ein schauerlich-schönes Bild. Überall in der Runde, wo man nur hinblickte, sah man brennende Dörfer und Städte."
Ausschnitt 8: "Kalt und klar, verbringen die Nacht im Unterstand. Füße frieren und alle Glieder schlafen beim Sitzen ein. Sieben Uhr Ablösung. Infanteriegeschosse klatschen unheimlich durchs Gehölz. Es regnet schon wieder."
Diese Stimmen von allen Fronten fügen sich, zusammen mit den Aufzeichnungen derer, die in Deutschland zurück blieben, zu einem Gesamtbild der damaligen Sichtweisen und Empfindungen. Die Chronik aus den ersten fünf Kriegsmonaten fasziniert und berührt, weil sie einen unverstellten Blick auf die herauf ziehende Katastrophe erlaubt.
Ausschnitt 9: "Freitag, 1. Januar 1915. Meta Iggersheimer, Amberg:
Mit zagenden Schritten und ungewissen Ahnungen trete ich heuer hinüber in dies große Kriegsjahr 15. Wie viel Banges und Erhebendes verbargen die verflossenen fünf Monate schon in sich, eine überreiche Fülle Erlebnisse brachten sie mit. Wie viel werden wir noch hören und fühlen? Gott sei uns gnädig."