Thilo Guschas, Helgard Haug: "Munition Gedicht"
Regie: Helgard Haug
Sprecher: Thilo Guschas, Birgit Röhricht und Marcel Schieback
Sounddesign: Frank Böhle
Koproduktion: SWR / NDR / WDR
Hörspielpark, Berlin 2016
1 CD, 54 Minuten
ab 7 Euro
Eine Revolution in Poesie gehüllt
Im Arabischen Frühling wird Poesie zur Waffe: Lyrik spielte eine große Rolle während der Aufstände. Das Hörbuch "Munition Gedicht" macht sie nun hörbar - ein berührendes Hörspiel-Feature.
Die Geschichte von Omar Hazek beginnt im Sommer 2010, mit einem vor Millionenpublikum vorgetragenen Gedicht, mit dem er die panarabische Castingshow "Prince of Poets" gewann.
"Das ist ein Liebesgedicht!
Ein Liebesgedicht!
Aber es wäre auch nicht ganz verrückt zu behaupten, dass es eine Metapher ist zu der Liebe zu Ägypten. Zu der Beziehung zu Ägypten.
Ein Liebesgedicht!
Aber es wäre auch nicht ganz verrückt zu behaupten, dass es eine Metapher ist zu der Liebe zu Ägypten. Zu der Beziehung zu Ägypten.
Die Szene spielt 2007. Omar Hazek ist 29 Jahre alt. Er arbeitet in der Bibliotheca Alexandrina, Ägyptens zweitgrößter Bibliothek in Alexandria. Nach knapp vier Minuten entlädt sich in einer kurzen Atempause der erste Applaus…"
Angestaute Emotionen, eingehüllt in Poesie - nicht für einen geliebten Menschen, sondern für ein von seinen Menschen geliebtes Land. Doch im Arabischen Frühling werden diese Verse zu verbalen Waffen.
"O, Ägypten, es tut mir leid, aber mein Blut läuft über Deinen Asphalt. Ich singe, damit es sich nicht einsam fühlt…"
Der 1978 in Kuwait geborene Lyriker und Menschenrechtsaktivist Omar Hazek war bis letzen Oktober für zwei Jahre inhaftiert, nachdem er an einer illegalen Demonstration teilgenommen hatte, die das Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit einforderte.
"Das Gedicht verarbeitet den gewaltsamen Tod des Bloggers Khaled Said. Polizisten hatten ihn am 6. Juni 2010 aus einem Internetcafé in Alexandria auf die Straße gezerrt, misshandelt und zu Tode geprügelt. Das Bild seiner Leiche wird digital reproduziert und millionenfach im Internet angeschaut: der Brustkorb zerquetscht, Schädel und Zähne eingeschlagen…"
Ein Geflecht an Recherche-Material
Die Regisseurin und Hörspielautorin Helgard Haug ist Teil des experimentierfreudigen Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Für "Munition Gedicht" hat sie mit dem Journalisten und Islamwissenschaftler Thilo Guschas zusammengearbeitet. Ihr gemeinsames Feature besticht durch ein Geflecht an Recherche-Material - Zeitzeugen-Interviews, Protest-Lyrik und der Klang der Revolution.
Viele Demonstranten des Arabischen Frühlings äußern ihren Protest über Poesie. Die Verse des Hippiedichters Ahmed Fouad Negm erleben in dieser Revolution eine Art Renaissance. Seit den 1960er Jahren schrieb Negm regimekritische Gedichte. Auch mehrjährige Haft schüchterte ihn nicht ein: Insgesamt 18 Jahre verbrachte er hinter Gittern. Dort verfasste er seine Verse und trug sie öffentlich vor, sobald er wieder auf freiem Fuß war.
"Als 2011 in Kairo die Menschen auf den Tahrir-Platz gehen, bestärken sie Gedichte: Sie rezitieren sie, verwandeln sie in Sprechgesänge, sie vertonen sie, malen sie an die Wände...
Zurückhaltende musikalische Untermalung
Stärker als in anderen Revolutionen wird Dichtung zur Munition, zur Waffe des Volkes gegen die Diktatur…"
"Munition Gedicht" ist ein eindrucksvoll, berührendes Hörspiel-Feature. Nur die musikalische Illustration wirkt zurückhaltend. Doch vielleicht kommt gerade dadurch die Kraft der Poesie zur Geltung. Denn am Ende bleibt das Explosive der Worte, auch wenn die Revolution verstummt ist. Die Hoffnungen ihrer Helden leben weiter, über den Tod hinaus.
"Doch der romantische Moment vergeht. Die Revolution endet im Frust. Den Revolutionsdichter Negm verschlägt es die Stimme. Er kann nicht mehr dichten. Die Inspiration wird schon noch wieder kommen, mit eingezogenem Schwanz, sagt er 2012. Die Muse kehrt nicht mehr wieder. 2013 stirbt Negm…"