Peter Wawerzinek: Schluckspecht
Live-Mitschnitt Autorenlesung, Argon Verlag
2 CDs, Laufzeit 2 Stunden, 3 Minuten
erscheint 27.03.2014, 16,95 Euro
Rücksichtsloser Seelen-Striptease
Peter Wawerzinek gewann vor vier Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis mit einem Auszug aus seinem Roman "Rabenliebe", einer Schilderung der Suche nach seiner Mutter, die ihn als Kleinkind in DDR zurück gelassen hatte. Sein neuer Roman "Schluckspecht" erscheint nun als Hörbuch. Es ist ein autobiografischer Roman, eine erschütternde Reise in die Abgründe des Suffs.
Es ist voll im Kiez-Kino "Krokodil" in Prenzlauer Berg. Vor allem Profis sind im Publikum: Buchhändlerinnen und Kritiker wollen Peter Wawerzinek lesen hören. Einen Meter 60 klein, mit schütterem Haar, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, steht Peter Wawerzinek am Rand des Kino-Saals. Warum liest er den Text "Schluckspecht" nicht in Ruhe im Tonstudio ein?
Peter Wawerzinek: "Weil das immer so enge Studioverhältnisse sind und ich kriege dann immer so irgendwie Platzangst. Es war immer mein Anliegen, so direkt wie möglich mit dem Publikum zu tun zu haben. Früher war das sogar, dass ich extra Texte geschrieben habe, auf das Publikum zu, weil ich wusste, welches Publikum ungefähr da ist. Das braucht immer schon dieses Gegenspiel."
Peter Wawerzinek, vor dem Mauerfall Mitglied der Ost-Berliner Literatur-Szene hier in Prenzlauer Berg, Stegreif-Poet und Performance-Künstler, erklimmt die Bühne: Ein einsames Pult im Licht einer Stehlampe, ein Glas Wasser, das unberührt bleiben wird.
"Einen recht schönen guten Abend. Und ich hoffe, dass es alles klappt. Das ist aber, offen gesagt, ein Trinkerroman, also… ‚Tante Luci: "Alkohol ist ein Gift. Das haben die Physiologen bewiesen. Aber gegen den Alkohol ist damit gar nichts bewiesen, denn ein Gift kann immer noch auch eine Medizin sein – Egon Fridell." Ach, hätte ich doch besser auf Tante Luci gehört, es wäre nicht so schlimm mit mir gekommen."
Ein rücksichtsloser Seelen-Striptease. Peter Wawerzinek schlägt das Publikum sofort in seinen Bann, mit der Geschichte einer Kindheit in Alkoholschwaden. Der Ich-Erzähler wächst bei Tante Luci und "Onkelonkel" auf, weil seine Eltern nichts von ihm wissen wollen. Es beginnt harmlos: Das Kind nascht heimlich von den Resten, wenn die Erwachsenen mit Hochprozentigem feiern.
"Oh, Rumtopf du! Oh, flüssiger Batzen, aus Obst und Schnapsen zu uns gekommen. Gut, dass es dich gibt! Wir sind ja alle so in dich verliebt!" Onkel nennt Rumtopf Bowle, Fruchtwein und Kirschlikör "alles Mist" und "geh mir weg damit!" Und sagt: "Wer sowat trinkt, der bringt auch kleine Kinder um!" (Gelächter)
Das Ziehkind gewöhnt sich an den Alkohol, auf dem Internat hocken die pubertierenden Jungs dann schon täglich in der Kneipe, bei Bier und Schnaps.
"Und die Kumpels reden immer offener von den Mädchen und was sie mit ihnen treiben. Und die Jungs geben an und ich weiß so oft nicht, wovon sie reden. Und sie merken es und übertreiben dann absichtlich und ich will mich ihnen gegenüber mannhaft beweisen und dadurch trinke ich eben über den Durst. Das ist meine einzige Chance, mich ihnen gleich … und mir ist so oft schlecht. Ich habe Angst, ein Säufer zu werden, ich hadere, will vom vielen Rumgesaufe ausruhen, nicht schon wieder am Bierglas hängen. Ich möchte spazieren gehen! (..) Es geht dann aber immer wieder, wieder, wieder von vorne los. Jemand fragt: Hei, kommst du mit in die Kneipe?" Und ich: "Ja, ja. Ja, klar doch, natürlich, ja."
Sauftouren werden zu Exzessen
Peter Wawerzinek ist ein begnadeter Vorleser: Er wechselt blitzschnell die Tonlagen, haucht und faucht, wimmert und grölt, flüstert und lallt. Einerseits fühlt man sich bei dieser Lesung wie ein Katastrophentourist, ein Voyeur.
Doch Wawerzineks Witz, der sich an den skurrilen Elementen seines Absturzes entzündet, macht das Grausen erträglich, ja sogar unterhaltsam.
"Den Trinker und Säufer trennen Welten. (..) Der Säufer ertränkt ja nur seine Probleme. Der Trinker dagegen steige heiteren Gemüts in die Abhängigkeit wie in einen Swimmingpool und schwimme auf dem Alkohol wie ein Papierschiffchen."
Doch das Schiff geht unter: Aus den Sauftouren werden selbstzerstörerische Exzesse.
"Was ich wiedergeben kann, ist ja nur der geringe Teil von dem, was mir zustößt. Der größere Teil ist ja für immer verloren. Ich erwache mit Wunden und Flecken und Kratzern, die in der Bettwäsche blutige Spuren hinterlassen, und habe mit Verstauchungen, Prellungen zu tun, Verletzungen, die ich mir unterwegs zugezogen haben muss. Oder sind die Verletzungen – sind die mir beigebracht worden? Woher soll ich das wissen? Ich war doch gar nicht mehr bei Verstand."
Eine Stunde geht das so im Kino "Krokodil", zwei Stunden Lesung - und immer weiter. Peter Wawerzinek ist wie im Rausch, als ihm plötzlich einfällt, dass hier ja ein Hörbuch aufgenommen wird.
"Ich mache jetzt das ganz kurz. Es ist so, dass … nein, ich erzähle jetzt einfach so ein bisschen hier, für alle, die es interessiert, wie das Buch dann irgendwie weitergeht. Es ist dann plötzlich so…"
Peter Wawerzinek erzählt dann noch, wie er im letzten Moment die Kurve gekriegt hat, zwar nicht trocken wurde, aber lernte, Maß zu halten beim Trinken. Der "Schluckspecht": Als Mitschnitt der Lesung eine Wucht, keine Sekunde zu lang.
"Ich danke für die Aufmerksamkeit".