Hörbuch: "Über Nationalismus" von George Orwell
mit einem Nachwort von Armin Nassehi
Der Audio Verlag, Berlin 2020
1 CD, 10 Euro
George Orwell: "Über Nationalismus"
übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
mit einem Nachwort von Armin Nassehi
dtv Verlagsgesellschaft, München 2020
64 Seiten, 8 Euro
Niemand ist gefeit
"Jeder Nationalist ist zur eklatantesten Schandtat imstande", schrieb der Schriftsteller George Orwell in seiner Analyse "Über Nationalismus". Sie ist nun, 75 Jahre nach der erstmaligen Publikation, als Hörbuch erschienen - und noch immer aktuell.
"Nationalismus ist Machthunger gedämpft durch Selbsttäuschung", schrieb George Orwell in seinem Buch "Über Nationalismus". Und weiter: "Jeder Nationalist ist zur eklatantesten Schandtat imstande, aber er ist sich auch – im Bewusstsein, einer Sache zu dienen, die größer ist als er selbst – unerschütterlich sicher, im Recht zu sein."
Nationalismus ist für George Orwell etwas eindeutig Negatives. In seinem Essay, das Christian Berkel sehr präzise vorträgt - so sehr, dass es fast wie eine Universitätsvorlesung klingt - unterscheidet Orwell dann auch Nationalismus und Patriotismus. Patriotismus, so der englische Schriftsteller, sei die Verbundenheit mit einem Ort oder einer Lebensweise, die man für die beste auf der Welt hält, die man aber anderen Menschen nicht aufzwingen möchte.
"Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden. Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder eine andere Einheit, der er seine Individualität geopfert hat."
Auf die Situation heute anwendbar
So schlicht diese Lesung ist, sie kommt ganz ohne Musik aus, so spannend und hörenswert ist sie. Rund eineinhalb Stunden, die mehr sind als ein historisches Zeitdokument, denn Orwells Analyse ist auch auf die Situation heute anwendbar.
"Der Nationalismus im erweiterten Sinne, wie ich ihn verwende, umfasst Bewegungen und Neigungen wie den Kommunismus, den politischen Katholizismus, den Zionismus, den Antisemitismus, den Trotzkismus und den Pazifismus. Er meint nicht notwendigerweise die Loyalität gegenüber einer Regierung oder einem Land, schon gar nicht gegenüber dem eigenen Land; die Einheiten, mit denen er zu tun hat, müssen nicht einmal wirklich existieren."
Demnach wären auch ideologische Gruppierungen oder Parteien, die scheinbar unversöhnlich Schaukämpfe austragen, in ihrem Kern nationalistisch. Weil es ihnen nach Orwell nicht um die Lösung eines Problems geht, sondern nur darum, zu gewinnen, sich durchzusetzen. Das beschrieb der Engländer im Mai 1945 so:
"Die propagandistischen Schriften unserer Zeit kommen großteils offenen Fälschungen gleich. Materielle Fakten werden unterdrückt, Daten abgeändert, Zitate aus dem Kontext gerissen und so bearbeitet, dass sich ihr Inhalt verändert. Ereignisse, die, so das Gefühl, nie hätten stattfinden sollen, bleiben unerwähnt und werden letztlich geleugnet."
Das kommt einem erschreckend bekannt vor, erinnert an die Populisten weltweit. Heute. Wie auch Orwells Gedanken über die menschliche Psychologie einleuchten. Niemand - so die Warnung - ist gefeit:
"Es muss nur ein bestimmter Ton getroffen oder an einem sensiblen Punkt gerührt werden – einem Punkt vielleicht sogar, von dessen Existenz man selbst bislang nichts wusste –, und die unvoreingenommenste und sanftmütigste Person verwandelt sich mit einem Mal in einen brutalen Parteigänger, der unbedingt gegenüber seinem Widersacher 'punkten' will und dem es egal ist, wie viele Lügen er erzählt und wie vielen logischen Irrtümern er dabei aufsitzt."
Rechtspopulismus und die Klimawandel-Debatte
Mit Orwells Thesen kann man sich auch 75 Jahre nach Erscheinen mit Gewinn auseinandersetzen. Das zeigt auch das Nachwort des Soziologen Armin Nassehi, das auf dieser CD ebenfalls zu hören ist:
"Die diagnostische Potenz dieses weiten Verständnisses von Nationalismus ist insofern besonders aktuell, als sich öffentliche Konflikte derzeit stark an solchen Dichotomien orientieren, die die Urteilskraft wechselseitiger Kompromisse immer stärker vermissen lassen. Man denke beispielsweise an die US-amerikanische Tea Party oder auch an den europäischen Rechtspopulismus oder aber die hitziger werdenden Debatten um den Klimawandel."
Ob Orwell die Warner vor einem Klimawandel und die Leugner wissenschaftlicher Erkenntnisse auf eine Ebene gestellt hätte, ist eine interessante Frage. Aber vielleicht gibt es ja auch Debatten, bei denen es keinen Kompromiss geben kann?