Roger Willemsen / Anke Engelke: Habe Häuschen. Da würden wir leben. Die wunderbare Welt der Kontaktanzeigen
Tacheles / Roof Music, Bochum 2015, 1 CD, 1 Stunde 25 Minuten, 14,99 Euro
Gnadenloser Blick auf die Welt der Kontaktanzeigen
Eine Blöße nach der anderen geben sich die Menschen auf der Suche nach der Liebe in den Kontaktanzeigen. Roger Willemsen und Anke Engelke zitieren in "Habe Häuschen. Da würden wir leben" aus dieser kuriosen Welt. Sie analysieren scharf, tappen allerdings in die Falle der Überheblichkeit.
Wer alleine ist und nicht alleine bleiben will, hat es nicht leicht. Ein Weg, die Einsamkeit zu überwinden ist die Kontaktanzeige. Und die hat schon eine lange Geschichte, die erste wurde bereits 1695 in einem Londoner Wochenblatt namens "Sammelsurium für den Fortschritt in Landwirtschaft und Handel" veröffentlicht:
"Ein Herr von etwa 30 Jahren mit ansehnlichem Besitz sucht eine junge Dame mit einem Vermögen von circa 3.000 Pfund."
Der wirtschaftliche Aspekt spielt in Kontaktanzeigen bis heute eine große Rolle, nicht nur, wenn solvente ältere Herren nach jungen Begleiterinnen suchen.
"Ich möchte eine kostenlose Mahlzeit, bin dick, pleite, hässlich, einsam und mir ist langweilig, aber ich habe Prinzipien, also schick mir ein Bild, sonst antworte ich nicht."
Dabei geht es geht Roger Willemsen in diesem Hörbuch um mehr, als eine Reihung von kuriosen Fundstücken. Kontaktanzeigen sind, so die nachvollziehbare These, ein Spiegel der Gesellschaft, sind Literatur – Menschen offenbaren ihre Sehnsüchte:
Engelke: "Hier sagen sie, wie sie selbst sich sehen oder gesehen werden möchten. Hier entwickeln sie ihre ganz eigenen Ideale eines erfüllten Lebens und Liebeslebens."
Wer eine solche Anzeige verfasst, muss inne halten, ein Selbstbild formulieren und ganz persönliche Ziele artikulieren. Keine leichte Aufgabe:
Willemsen: "Wer muss denn schon sonst überhaupt je sagen, was er oder sie ist, will, träumt, fürchtet."
Engelke: "Die meisten Menschen können ein ganzes Leben hinter sich bringen und sind um jede dieser Antworten herumgekommen."
Willemsen: "Denn was sie beschreiben müssen, das ist nicht der berufliche Mensch, nicht der Verbraucher, Wähler, Vertreter einer Zielgruppe. Nein, es ist der Rest, der bleibt, der rätselhafte Einzelmensch in seinem dauernden Schwanken zwischen hohen Idealen und niedrigen Absichten."
Fast schon eine Freakshow
Mit jeder Kontaktanzeige öffnen sich Welten. Willemsen und Engelke schauen in diese Welten hinein, meist ohne Gnade für die Protagonisten, die sich da freiwillig eine Blöße nach der anderen geben. Die "Wunderbare Welt der Kontaktanzeigen" gerät so fast schon zu einer Freakshow, die Suchenden werden vorgeführt:
"Wer mich haben will, muss hartnäckig sein, wie ein Landwirt. Denn wer eine Wiese düngen will, muss wissen, dass es nicht reicht, einmal durch den Zaun zu pfurzen."
"Bin Rentner, 72, und suche jemanden, der das Leben genauso satt hat wie ich."
Nur selten zeigen die beiden Mitleid:
"Moment, vergessen wir nicht, wie schwer sie es haben, all diese Menschen suchen den Menschen außerhalb der eigenen Reichweite. Das Phantom eines Menschen, der ihnen nie leibhaftig begegnet ist, sie kommunizieren noch dazu in der Fremdsprache 'Annoncendeutsch' und müssen in ihr ganze Welten überbrücken."
Seit den 70er-Jahren wurden diese Sehnsuchts-Miniaturen immer eindeutiger:
Willemsen: "Trage gern sexy Damenunterwäsche und suche Dame, die mich dabei unterstützt."
Engelke: "Was so alles unterstützt werden will auf dieser Welt."
Zu viel Hohn und Häme
Ein Hörbuch über die ewige Suche nach der Liebe in ihren verschiedensten Spielformen, das man jedoch bei aller analytischen Tiefe kein zweites Mal hören möchte, zu viel Überheblichkeit, Hohn und Häme klingen in den Stimmen und Interpretationen mit:
Engelke: "Du solltest kinder- und tierlieb sein und nichts gegen stark mollige Frauen haben. Ich sehne mich nach 'für-einander-da-sein' und 'durch Dick und Dünn gehen'. Fühlst Du Dich angesprochen?"
Willemsen: "Schon, ich überlege nur, wie das geht, mit einer stark molligen Frau durch 'Dünn' zu gehen."
Engelke: "Du denkst zu viel."
Vielleicht sind die Tage der Kontaktanzeige ja sowieso gezählt: Inzwischen boomen im Internet Partnersuchbörsen, bei denen der Algorithmus die passenden Menschen zusammenführen soll.
"Dem Algorithmus reichen Daten, er braucht keine Hilfsverben, keine Subtexte, nicht mal Seele braucht er und verspricht doch ganz wie die Kontaktanzeige den schnellen Weg zur Traumfrau, auch wenn es sie beide nicht gibt, nicht den schnellen Weg, nicht die Traumfrau. Oder?"