Hörbuch

Wo das Wort beim Lesen entsteht

Der deutsch-bosnische Autor Sasa Stanisic freut sich während der Verleihung des Preis der Leipziger Buchmesse auf der Messe in Leipzig. Er erhielt den Preis für Belletristik. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 für herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen verliehen und ist in drei verschiedenen Kategorien mit je 15.000 Euro dotiert.
Freude über den Preis der Leipziger Buchmesse: Saša Stanišić bei der Preisverleihung. © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Hartwig Tegeler |
Mit seinem Roman "Vor dem Fest" hat Saša Stanišić gerade erst den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Nun erscheint dieser als Hörbuchversion - gelesen vom Autor selbst, der seinen Worten so eine neue Bedeutung gibt.
"Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr."
Es hört sich an, als ob einer sich jedes Wort "auf der Zunge zergehen lässt":
"Der Fährmann ist tot. Zwei Seen kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit 1000 Stäben."
Fünf Minuten von "Vor dem Fest" gehört, ach was, eigentlich sind es schon diese 20 Sekunden, da hat einen ein ganz bestimmter Ton gepackt. Von Anfang an ein ganz eigener Rhythmus, in dem Saša Stanišić liest. Als ob die Sprache sorgfältig, fast zärtlich hin- und herbewegt wird, so dass ganz gewöhnliche Alltagswörter ganz anders klingen.
"Glaub aber ja nicht, dass wir in diesem Moment der Schwäche den tiefen See, der ohne seinen Fährmann noch tiefer geworden ist, nach seinem Befinden fragen. Oder den großen See, der seinen Fährmann ertränkt hat, nach seinem Motiv."
Alte Geschichten treffen auf Jetzt-Zeit
Der Roman "Vor dem Fest", die Geschichte über diese eine Nacht "vor dem Fest" im Dorf Fürstenfelde. Nacht. Nachtrhythmus?
"Die Nacht vor dem Fest ist eine eigenartige Zeit. Die guten Fürstenfelder heißen sie die Zeit der Helden."
Jahrhunderte alte Geschichten treffen auf Jetztzeit, die knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR. Niemand schläft - Nachtrhythmus? -, Herr Schramm auch nicht.
"Und Herr Schramm, ehemaliger Oberst der NVA, dann Förster, jetzt Rentner, und weil das nicht reicht, schwarz, schaut die Sportclips auf Sport 1."
Dann kommt Herr Schramm nicht an Zigaretten und verpasst dem Automaten eine Kugel, die er sich fünf Minuten vorher noch in den eigenen Kopf schießen wollte; Frau Schwermuth gibt es, die Archivarin, und Frau Kranz, die Dorfmalerin:
"Frau Kranz ist gerade aufgewacht. Und das ist fast schade. Wie schön doch manch alte Frau schnarcht."
Mythen, Sagen, Ereignisse
Es gibt anderthalb Neonazis, den zukünftigen Glöckner von Fürstenfelde, Johann, 16, doch das Problem ist, dass die Glocken weg sind. Und es gibt viele Geschichten von früher: Mythen, Sagen, Ereignisse, die Saša Stanišić herausholt aus dem Archiv, ...
"... ein Archiv, zu dem es keinen Katalog gibt."
… und so Geschichten erzählt, die von von Bränden handeln, Machtkämpfen, Morden, anderen Grausamkeiten an den beiden Seen.
"Es ist, als würden die Leute pflanzengleich überall dort aus dem Wasser sprießen, wohin wir unseren Blick lenken. Fürstenfelde ist das."
Mit 14 Jahren kam Saša Stanišić als Bürgerkriegsflüchtling aus Bosnien nach Heidelberg. Lernte die deutsche Sprache. Begann, darin zu schreiben, wie er in einem Interview erklärt:
"Ich habe das Gefühl gehabt immer schon eigentlich, seit meinen ersten Gehversuchen, auf Deutsch zu schreiben, dass ich da vieles finde, was ich in meiner eigentlichen Muttersprache nicht finde. Das Deutsche ist eine sehr flexible, sehr formbare Sprache. Wie gut durch eine reine Veränderung der Wortfolge in einem Satz Bedeutung geschaffen werden. Das gibt mir in der Sprache als Werkzeug viele, viele Möglichkeiten, damit zu spielen, damit zu arbeiten."
Das Geschriebene umgeformt
Wenn man Saša Stanišić lesen hört, entsteht der Eindruck, als forme der Vorleser das Geschriebene im Lesen selbst noch um. Als ob das Wort jetzt erst entsteht. Inzwischen aber sei er froh, sagt Saša Stanišić, dass er beide Sprache parat habe:
"Also sowohl das Bosnische wie das Deutsche, weil man dann zum Beispiel durch Übersetzung von Redewendungen, die es in der einen Sprache gibt und in der anderen nicht auch neue Bedeutungen kreieren kann. Und das ist ganz schön, wenn zwei Sprachen einem zur Verfügung stehen, das wir eigentlich zu einem Vorteil. Das wird eigentlich so, als hätte man noch einen zweiten Ball, mit dem man als Mannschaft spielen kann."
"Vor dem Fest" ist natürlich wie jede dramatische, tragische Erzählung über den Menschen auch brutal, blutig, grausam, traurig, aber ebenso skurril, auch saukomisch in seiner Absurdität. Und so kommt mitunter in diesem Ton, in dem Saša Stanišić vorliest, etwas vom Balkanpunk eines Emir Kusturica in die Uckermark, nach Fürstenfelde. Eine meiner Lieblingsstellen: wenn die dicke Frau ...
"... die schwitzt und keucht ..."
… wenn diese Frau, …
"... schwitzend wie ein Eisberg."
… in den See springt. Jedes Wort, wie gesagt, lässt sich Saša Stanišić sich auf der Zunge zergehen.
"Eine Arschbombe, die Landschaften formt"
"Nach einer Stunde steht sie auf, läuft auf die Straße, kurvt zur Promenade, immer schneller, Sebastian Vettel in dick, läuft auf den Steg beim Fährhaus, klatscht den Fährmann ab und springt vom Steg in den See rein. Eine Arschbombe, die Landschaften formt."
Wenn man dies - was nicht im dem Hörbuch zu hören ist, sondern aus dem Privatarchiv des Rezensenten kommt -, wer also bei dieser Szene dieses Geräusch beim Hören nicht imaginiert, also, dann ich weiß nicht. Was für ein Bild? "Arschbombe" ...
"... Arschbombe, die Landschaften formt."
Was für ein Erzähler, aber auch: was für ein Vorleser!

Saša Stanišić: Vor dem Fest.
Gelesen vom Autor.
Der Hörverlag, München, 2014,
6 CDs, ca. 6 Stunden, 19,99 Euro

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