Hörerfeedback

Reaktionen auf "Mein Kind geht nicht zur Schule"

Ein Klassenzimmer mit Tafel.
Das Klassenzimmer bleibt leer © picture alliance / dpa / Maja Hitij
Von Johannes Nichelmann |
Die meisten Klicks in 2014 hat ein Beitrag in unserem Zeitfragen-Magazin bekommen, in dem ein Vater erörterte, warum er seinen Sohn nicht zur Schule schickt. Zahlreiche Hörer haben auf diesen Beitrag reagiert. Auch die Lehrerin Heike S.
Die meisten Klicks, die meiste Aufmerksamkeit auf unserer Internet-Seite gab es im vergangenen Jahr für einen Vater, der begründet, warum er seinen achtjährigen Sohn Jakob nicht zur Schule schickt. Das ist nicht legal. Würden die Behörden der Familie auf die Schliche kommen, gäbe es eine hohe Geldstrafe und eventuell den Entzug des Sorgerechts. Deshalb hat er seine Argumente anonym geschildert. Daraufhin haben wir weit mehr als hundert Kommentare und viele Mails erhalten. Bevor wir auf eine Reaktion im Besonderen eingehen, hören wir nochmal einen Ausschnitt aus dem Essay "Mein Sohn geht nicht zur Schule":
Ausschnitt aus Zeitfragen-Magazin vom 08. Dezember 2014:
"Er lernt ganz von selbst, er liest, schreibt, rechnet so gut wie andere Kinder - alles ohne Unterricht. Denn wir praktizieren kein 'Homeschooling', wo Eltern ihr Kind unterrichten, sondern das sogenannte 'Freilernen', auf Englisch sagt man: 'Unschooling'. Unterricht ist eine unglaublich ineffiziente Art der Wissensvermittlung. Kinder lernen von Natur aus, freiwillig, sie saugen Wissen geradezu auf!"
Sagt der Vater. Aber gilt diese Art der Wissensvermittlung auch für Eltern, die wenig Zeit haben und vor allem wenig Wissen. Für sie ist die Schule doch ein Segen!
Ausschnitt Zeitfragen-Magazin vom 08. Dezember 2014:
"Aber diese Kinder sind doch gerade die Verlierer des Schulsystems! Das zeigen alle Studien, seit Jahrzehnten, alle Reformen haben daran kaum etwas geändert: Bildung ist gerade in Deutschland sozial hoch selektiv. Ich finde das auch logisch, denn Schule ist von ihrer Grundstruktur her als Wettrennen um die guten Noten organisiert, und wer vom Elternhaus her mit einem Vorsprung in dieses Rennen einsteigt, der geht auch eher als Sieger daraus hervor. (...)
Soziologisch gesehen, ist Schule ein System gesellschaftlicher Reproduktion - und eine Gesellschaft, die sozial geschichtet ist, wird sich durch diese Institution auch immer als geschichtete reproduzieren. Dass man ausgerechnet die Schule als Heilmittel dafür anpreist, ist ein Widerspruch in sich!"
Soweit – die Argumentation des Vaters in seinem Essay – der wie erwähnt viele Reaktionen ausgelöst hat.
"Ich danke dem Vater von Jakob für seinen Bericht und hoffe, dass Ihr Beitrag vielen Menschen einen Denkanstoß in Richtung Freiheit und Selbstbestimmung gibt."
– hat uns zum Beispiel Dorothea Böhm aus Bielefeld per Mail geschrieben.
Daniel Brunner schrieb: "Als ehemaliger Lehrer gebe ich dem Vater zu 100 Prozent recht".
E-Mail einer Lehrerin aus Baden-Württemberg
Heike S. ist ebenfalls Lehrerin, aus Baden-Württemberg. In ihrer langen E-Mail beschreibt sie eindrücklich ihre Sicht auf das Thema Schulpflicht – und deswegen hören wir jetzt einen Ausschnitt aus ihrem Brief.
"Sehr geehrter Vater von Jakob,
danke für Ihren Beitrag! Ich stimme Ihnen in fast allen Punkten zu - und genau deshalb arbeite ich in einer Förderschule. Ich nehme an, Sie haben sich gründlich mit dem Phänomen Schule und der Regelschule auseinandergesetzt, verkennen aber die Funktion der Förderschulen. Gerade für Kinder aus den sogenannt sozial schwachen Familien ist das fürsorgliche Zwangssystem ein Segen.
Konkret: Ich habe eine Klasse mit sieben Schülerinnen und alle sprechen den ganzen Tag miteinander und mit mir. Es gibt keinen 'Unterricht', wie Sie ihn vor Augen haben. Meine Kinder lieben die Schule. Sie fürchten die Wochenenden und die Ferien.
Die Schulzeit ist der einzige Ort, an dem sie physisch wie psychisch sicher sind vor Missbrauch und Gewalt. Sie sagen nach unseren Gesprächen Sätze wie 'Ich wusste gar nicht, dass man so was sagen darf' oder 'Aber das wissen jetzt nur Sie. Dass darf niemand erfahren'.
ICH sorge dafür, dass ein vor Schmerz weinendes Kind endlich einen Zahnarzt sieht und bei uns sieht das Kind zum ersten Mal Stifte oder Wasserfarben und kann sich u.U. damit ausdrücken. In der Schule machen manche Kinder die unglaubliche Erfahrung, nein sagen zu dürfen, ohne verprügelt zu werden. Ein Kind erzählte, dass die Lehrerin die erste erwachsene Person im Leben gewesen sei, die es in den Arm genommen hätte. Manche Kinder haben vor ihrer Schulzeit noch nie eine gekochte Mahlzeit gegessen. Die Liste ist endlos.
Ist Schule dazu da, Familie zu ersetzen, den Eltern ihre Pflichten als Eltern abzunehmen, die Schwächen der Gesellschaft auszugleichen? Nein! Übersteigt sie da nicht die ihr zugeschriebene Funktion? Ja! Und doch ... Nachbarn schauen weg, bzw. leben ja genauso (unsere Kinder kommen fast alle aus der gleichen Wohngegend), zu Ärzten, Kindergärten, anderen Einrichtungen gehen die Eltern und Kinder nicht - und insofern bin ich momentan froh, dass es Schule als Zwangseinrichtung gibt, denn das ist momentan das einzige Mittel, dass diese Kinder eine Chance auf gewaltfreie Stunden haben.
Das Recht auf Kindsein und das Recht auf den heutigen Tag, das Sie ansprechen ... Viele 'meiner' Kinder wüssten gar nicht, wie sie den heutigen Tag überstehen sollten, wenn sie nicht von acht bis 15 oder 16 Uhr aufatmen könnten. Ja. Natürlich habe ich spezielle Kinder und arbeite in einer speziellen Schule. Und ich möchte das System Schule auf keinen Fall verteidigen! Aber es ist im Moment die einzige Möglichkeit, den Kindern ein paar Stunden Kindheit zu geben."
Ein Hörerbrief von einer Förderschul-Lehrerin aus Baden-Württemberg zu unserem Beitrag "Ein Vater erzählt: Mein Kind geht nicht zur Schule". 
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