"Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen depressiven Teenager im Sommer 1969", Hörspiel von Frank Witzel
Bearbeitung: Leonhard Koppelmann / Frank Witzel, Regie: Leonhard Koppelmann, Sprecher: Edmund Telgenkämper, Jonas Nay u.a., Musik: Frank Witzel
Intermedium Rec., München 2016, 2 CD, 160 Minuten, 20,00 Euro
Pop, gezaubert aus Politik und Paranoia
Für seinen Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" erhielt Frank Witzel im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis. Jetzt ist der Bestseller als Hörspiel herausgekommen, das unseren Kritiker begeistert hat.
Dem Ertrinken gerade noch entronnen und schon setzt der Beat ein. Eine musikalisch inszenierte Auferstehung - die Banalität des Alltäglichen, die Zerrissenheit in einer Welt voller Macht und Ohnmacht, Politik und Religion.
"Ich weiß, wie schwer es ist, nicht verführt zu werden, weil man oft nicht unterscheiden kann, wer der Gute ist, und wer nicht, und es selbst ein Zeichen der Niederkunft Jesu ist, dass kurz zuvor Propheten auftauchen, die sagen: Sie seien er, es aber nicht sind. Aber wie soll man das unterscheiden? Wenn er es dann plötzlich selbst ist, wo kurz zuvor andere das selbe behauptet haben."
Der Autor schrieb selbst die Musik
Vertonte Perspektivlosigkeit, getaucht in tiefe Melancholie: Im besten Stil der späten Beatles musiziert hier Frank Witzel selbst in der Hörspielfassung seines Romans "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969". Das 800-Seiten-Buch ist nun als knapp dreistündiges Hörspiel erschienen. Eine Coming-of-Age-Geschichte im Spannungsfeld aus Politik, Religion und Paranoia in der Zeit nach der 68er-Revolution.
"Na, ihr braucht ein paar Aktionen, die eindeutig machen, wo ihr steht. Ist doch klar. Also gegen den Revisionismus drüben und gegen die alten Nazis und Bonzen hier…"
Das Leiden am Leben – und am System. Innere Zerrissenheit und Revoluzzertum. Der Protagonist identifiziert sich mit Baader, Enslin, Meinhof – den Gründungsmitgliedern der RAF.
"Rote Armee Fraktion. Das bringt es doch voll. Jetzt müsst ihr euch auch noch Decknamen ausdenken. Ist doch klar."
Alles verschwimmt in kindlichen Erinnerungen und lebendiger Fantasie - episodenhaft wie in einem rasanten Road-Movie. Sehr schön eingesprochen, unter anderem vom Ensemblemitglied des Münchner Residenztheaters Valery Tscheplanowa und ihrem ehemaligen Kollegen Shenja Lacher.
"…Die Bullen fangen an zu ballern.
- Wo ist die Pistole?
- Im Handschuhfach. Aber die ist nicht geladen.
- Wie, die ist nicht geladen?
- Da ist kein Wasser drin.
- Wasser?
- Ja, das ist meine Wasserpistole.
- Sag mal, spinnst du! Wo ist denn die Erbsen-Pistole?…"
Slapstickartige Episoden
Fast schon slapstikartig überhöht wirken die Romanepisoden als Minihörspiele im Hörspiel. Detailverliebt und fantasievoll setzt Frank Witzel mit dem renommierten Hörspielautor Leonard Koppelmann sein akustisches Gesellschafts-Psychogram in Szene.
"…dass man diese Wut dann, weil man ihr anders nicht Herr wird, weiter züchtet, aufputscht, um sich endlich mit einer blinden Tat, endlich aus der Regression hinauszuschleudern, hinauszukatapultieren, um endlich, endlich, um einmal wenigstens, um dann, um dann, um endlich… Aus. Genug. Aus. In Tüte atmen. Ausatmen. Einatmen. Ein. Aus. Fernseher. An. Aus. Atmen. Ein. Aus. Fernseher. Tüte. Aus. Ein. Fernseher an. Aus. Ein. Aus. An. Aus. Programmwechsel. Auch was Unverfängliches. Kinderstunde. Regression."
Es ist die Regression im psychologischem Sinne, die Rückkehr eines Erwachsenen in kindliches Erleben, die diese Geschichte so beängstigend amüsant und zugleich angsteinflößend komisch macht.
Die Handlung spiegelt sich auch in der von Frank Witzel selbst komponierten Musik: Die akustischen Akzente wirken wie ein Abwehrzauber gegen die bedrohlich empfundene Welt der Erwachsenen. Ein ausgewachsenes und kunstvoll verwobenes Hörspiel ist so entstanden, in dem aus Politik und Paranoia zauberhafter Pop wird.
Hier finden Sie eine Leseprobe aus dem Buch: www.frankwitzel.de/Erfindung_Leseprobe.pdf