Buch über den 20. Juli 1944
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Dekonstruktion eines Attentats
06:53 Minuten
Ruth Hoffmann
Das deutsche Alibi: Mythos „Stauffenberg-Attentat“ – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wirdGoldmann Verlag, München 2024400 Seiten
24,00 Euro
Zum 80. Mal jährt sich das Attentat vom 20. Juli 1944. Claus Schenk Graf von Stauffenberg verübte im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ einen Bombenanschlag auf Hitler. In ihrem Buch beschreibt Ruth Hoffmann den Umgang mit dem Attentat nach 1945.
Alljährlich versammeln sich Repräsentanten aus Staat und Gesellschaft im Berliner Bendlerblock, um der Männer zu gedenken, die dort noch in der Nacht des 20. Juli 1944 als Widerstandskämpfer erschossen wurden - darunter General Friedrich Olbricht und Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Es waren jedoch nicht allein hohe Militärs, die Hitler stürzen wollten. Und es wäre verkürzt, so die Autorin Ruth Hoffmann, die Verschwörung gegen das NS-Regime auf den Namen Stauffenberg zu reduzieren, auch wenn er es war, der die Bombe im Führerhauptquartier platzierte und zündete.
„Der Mythos fängt eigentlich schon dabei an, dass der Begriff Stauffenberg-Attentat völlig zu kurz greift. Weder war es Stauffenberg allein, noch war es nur ein Attentat, sondern ein geplanter Staatsstreich, für den das Attentat nur der Auftakt sein sollte. Und Stauffenberg hat das nicht alleine gemacht, sondern hinter ihm stand ein breites Bündnis aus Militärs und Zivilisten“, sagt Hoffmann.
Ein Stachel im Fleisch
Die Hamburger Historikerin hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Mythos „Stauffenberg-Attentat“ zu dekonstruieren. Dies gelingt ihr in einer anschaulich geschriebenen Darstellung vorzüglich. Dabei geht es ihr nicht um das Attentat selbst, auch andere Widerstandsgruppen wie die Weiße Rose, die sogenannte Rote Kapelle oder den Einzelgänger Georg Elser erwähnt sie nur am Rande. Hoffmann konzentriert sich vielmehr darauf, wie der 20. Juli 1944 nach dem Krieg „verklärt und politisch instrumentalisiert“ wurde.
Nach 1945 dauerte es viele Jahre - auch das schildert die Autorin eindrücklich - bis die Verschwörer als Widerstandskämpfer überhaupt anerkannt und geehrt wurden. „Der 20. Juli 1944 war immer ein schwieriges Datum und ein Stachel im Fleisch deutscher Selbstgewissheit – weil er das Märchen vom verführten Volk entlarvte, das von nichts gewusst habe, und weil er zeigte, dass es möglich gewesen wäre, sich anders zu verhalten.“
Überzeugte Nationalsozialisten
Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Nationalsozialismus änderte sich das Bild. Die Widerständler, allen voran Graf Stauffenberg, erschienen nunmehr in einem hellen Licht, sie verkörperten das „andere Deutschland“, ihr Handeln galt als „Aufstand des Gewissens“.
Unterschlagen wurde, so Hoffmann, dass sie alles andere als makellose Helden gewesen waren. „Stauffenberg und viele andere gerade im Militär waren zunächst überzeugte Nationalsozialisten, und gerade Stauffenberg ist ja erst relativ spät, nämlich 1943, zur Verschwörung dazugekommen.“
Hoffmann beschreibt nicht nur, wie schwer den Westdeutschen die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler fiel – den Umgang der Ostdeutschen mit dem nationalsozialistischen Erbe erwähnt sie nur am Rande -, sie beleuchtet auch ausführlich die Schattenseiten dieser Entwicklung: Der konservative Aufstand aus den Reihen Adliger und Militärs wurde in der Bundesrepublik geehrt, der Widerstand von Kommunisten und Sozialisten, Gewerkschaftern und Deserteuren dagegen weitgehend missachtet und diffamiert.
Renten für NS-Witwen, aber nicht für Opfer
Zugleich kamen Träger und Mitläufer des NS-Regimes wieder in Amt und Würden, während überlebende NS-Opfer jahrelang um Renten und Entschädigung kämpfen mussten, zum Teil vergeblich. Ein Fall unter vielen: „Marion Freisler bekam ihre Rente schon seit 1955 – die der Witwe eines Staatssekretärs wohlgemerkt, denn als solcher war ihr Mann im Reichsjustizministerium tätig gewesen, bevor er Präsident des Volksgerichtshofes wurde. Ab 1974 konnte sie sich über eine deutliche Rentenerhöhung als ‚Schadensausgleich‘ freuen, die ihr das Versorgungsamt mit dem Argument gewährte, ihr Mann hätte nach dem Krieg in der Privatwirtschaft Karriere machen können.“
Angesichts solcher Vorfälle ist es nicht verwunderlich, dass Hoffmann ihr Buch mit unverkennbarer Sympathie für die diskriminierten, an den Rand gedrängten und diffamierten Opfer des NS-Regimes geschrieben hat.
Widerstandsdenkmal vom NS-Künstler
Auch im Bendlerblock, dem Sitz der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, ist die Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit sichtbar. Dort, wo unter anderen Stauffenberg erschossen wurde, steht seit 1953 die überlebensgroße Bronzestatue eines an den Händen gefesselten nackten Mannes: „Ausgerechnet dieses Denkmal wurde, allerdings auf Initiative der Angehörigen der ermordeten Widerstandskämpfer, von einem NS-Künstler, nämlich Richard Scheibe, geschaffen. Das fand anscheinend niemand anstößig.“
Richard Scheibe war regelmäßig auf NS-Kunstausstellungen präsent, Hitler und Goebbels kauften seine Werke, der Propagandaminister setzte ihn auf die Liste der sogenannten gottbegnadeten Künstler, aber bereits 1953 erhielt er das große Bundesverdienstkreuz. Eine deutsche Karriere.
Vielfältiges Bündnis mit einem Ziel
In ihrer Betrachtung des deutschen Widerstands verweist Hoffmann auf einen Aspekt, der ihr besonders bedeutsam erscheint - gerade angesichts aktuell zunehmender rechtsextremer Tendenzen: Im Kampf gegen das NS-Regime kam ein vielfältiges Bündnis zustande. Menschen mit sehr unterschiedlichen Einstellungen, Konservative und Kommunisten, Militärs und Pazifisten, Christen und Gewerkschafter, stellten für ein gemeinsames Ziel ihre Differenzen zurück.
„Für mich ist der 20. Juli ein Beispiel dafür, wie es möglich ist, aufeinander zuzugehen, trotz politischer Uneinigkeit. Und bei den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, die uns alle angehen, ist das, denke ich, wenn man so will, das Vermächtnis des Widerstands“, sagt die Autorin.
Ruth Hoffmanns Buch ist ein beeindruckender Beitrag zu einem wichtigen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte; ein mehr erzählendes als wissenschaftliches Werk. Gleichwohl hat sie ihre Darstellung mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen. Rätselhaft ist jedoch, warum das knapp 50-seitige Quellenverzeichnis nicht gedruckt vorliegt, sondern nur online einzusehen ist.