Regierungswechsel in Chile

Boric als Hoffnung der Jugend

20:27 Minuten
Ein kleines Mädchen mit rosa Mundschutz sitzt auf der Schulter ihres Vaters und beide halten jeweils ein Foto von einem Hund bzw. dem neuen Präsidenten Boric mit einer gestreiften Schärpe hoch.
11. März - Amtseinführung von Gabriel Boric als neuer Präsident Chiles. Vor allem die Herzen der jungen Chilen:innen fliegen ihm zu. © IMAGO/NurPhoto
Von Damián Correa Koufen |
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Zeitenwende in Chile: neuer Präsident ist seit März Gabriel Boric. Der Mann ohne Krawatte und mit Tattoo. Es sind vor allem die Jungen, die den Ex-Studentenführer gewählt haben. Sie hoffen auf einen sozialen Wandel mit dem Linkspolitiker. Zu Recht?
Freitag, 11. März 2022: Eine bunte Menschenmenge hat sich vor dem Nationalkongress in Valparaiso, der chilenischen Hafenstadt mit den vielen bunten Häusern, versammelt.
Ein Fahnenmeer und darunter jubelnde Frauen, die die Arme nach oben strecken und applaudieren.
Erste Rede von Gabriel Boric in Santiago de Chile nach seiner Amtseinführung - viel Jubel und Euphorie in einem in Arm und Reich tief gespaltenen Land.© IMAGO/NurPhoto
Regenbogenfahnen und die Flagge der Mapuche, dem größten indigenen Volk in Chile, bewegen sich leicht im Wind. Dann fährt der schwarze Ford vorbei, auf den hier alle gewartet haben.

Erleichtert, dass Piñera weg ist

Sebastián Piñera, dem weißhaarigen Mann hinter der gepanzerten Fensterscheibe, werden wütende Beschimpfungen entgegengeschleudert.
„Ich bin so unglaublich erleichtert, dass er weg ist, wirklich. Ich darf in einem Interview gar nicht die Worte benutzen, mit denen ich ihn gern beschreiben würde. Ein widerlicher Mensch, er hätte es verdient, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen“, sagt der 32-jährige Carlos Corso über den scheidenden Präsidenten, der an diesem Tag die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger übergibt. Carlos ist extra aus der zwei Stunden entfernten Hauptstadt Santiago angereist, um den Regierungswechsel live mitzuerleben.
Es war Piñera, unter dessen Führung die Polizei auf die sozialen Proteste, die Chile vor drei Jahren erschütterten, mit massiver Repression reagierte.

Nach den Protesten kommt der soziale Wandel

Auch Carlos wurde bei diesen größten Demonstrationen seit der Pinochet-Diktatur durch eine Tränengasgranate am Schlüsselbein verletzt. Die Vereinten Nationen dokumentierten als Folge der Auseinandersetzungen zahlreiche Fälle von Vergewaltigung, Folter und schwerer Körperverletzung.
„Er war nie bereit, den sozialen Wandel in Chile zu unterstützen. Er hat stattdessen seinem eigenen Volk den Krieg erklärt."
Begleitet von Polizisten auf Motorrädern stehen der winkende Boric und seine Freundin in einer Limousine, die durch die Stadt fährt. Am Straßenrand jubelnde Menschen.
Triumphzug durch Santiago - doch die konservative Elite in Chile ist immer noch mächtig. Wird Gabriel Boric seine Ideen wirklich umsetzen können?© IMAGO/NurPhoto
Es sind vor allem junge Menschen wie Carlos, die sich heute vor dem Nationalkongress versammelt haben.
Und es waren vor allem ihre Stimmen, die den selbst erst 36-jährigen Linkspolitiker Gabriel Boric bei der Wahl im Dezember zum jüngsten Staatschef gemacht haben, den Chile je hatte. Einen Mann mit Vollbart und Tattoos und ohne Krawatte – also einer, der auch optisch aus dem Rahmen fällt.
Hörbare Begeisterung in dem Moment, als der frischgebackene Präsident und Hoffnungsträger das Gebäude verlässt.
"Ich finde, das ist ein Riesenschritt in diesem unglaublichen Wandel. Ich wollte diesen historischen Tag persönlich miterleben, mit eigenen Augen alles sehen.
Chilenische Frauen demonstrieren am Internationalen Frauentag in Santiago.
Aufbruchsstimmung bei der Demonstation zum Internationalen Frauentag in Santiago: Auch viele Frauen setzen Hoffnungen in den jungen, progressiven Präsidenten.© IMAGO / Aton Chile / Marcelo Hernandez
Auch Frauenherzen fliegen dem jungen Boric zu. Vielleicht wegen der neuen Optik, vor allem aber auch wegen der Thematik des ambitionierten Frauenförderers.

Boric, der Unterstützer der Frauen

Gute Stimmung deshalb auch beim Internationalen Frauentag, an dem sich am 8. März in Santiago Hunderttausende auf den Straßen versammeln.
"Der Machismus ist ein fester Bestandteil unserer Kultur, wir können hier nicht ohne Angst allein auf die Straße gehen, vor allem nachts nicht."
Schon in seinem Wahlkampf hatte sich Boric ausdrücklich für Frauenrechte stark gemacht.
"Ich hoffe, Boric wird dieses Problem an der Wurzel anpacken. Sein Programm ist feministisch, er unterstützt die Gleichstellung der Geschlechter. Ich hoffe, dass er durchsetzen wird, dass sich schon Kinder in der Schule mit feministischen Themen auseinandersetzen", sagt eine Demonstrantin. Eine andere meint:
"Ich hoffe, dass Abtreibungen endlich ausnahmslos legalisiert werden, die Bedingungen, unter denen abgetrieben werden darf, sind immer noch schlecht."
Und eine weitere findet: "Borics Kabinett ist zum ersten Mal in der Geschichte mit mehr Frauen als Männern besetzt, das ist ein tolles Zeichen."
Ein Mann mit dunklem Vollbart, Brille, offenem weißen Hemd und Jacket steht an einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon.
Was ändert sich in Chile? - Der neue Präsident Gabriel Boric bei einem Antrittsbesuch in Argentinien Anfang April.© IMAGO/Aton Chile
Unter Boric liegt die Leitung des Innenministeriums erstmals in den Händen einer Frau, dazu sind etwa ein Drittel der Ministerinnen und Minister unter vierzig Jahre alt.

Mehr Akzeptanz für Homosexualität

Viele von ihnen – wie Camilia Vallejos oder Giorgi Jackson – sind Weggefährtinnen und -gefährten Borics, führten die Studierendenproteste an, die als Vorläufer des Aufstands von 2019/20 gelten. Sie sollen jetzt die Forderungen der sozialen Bewegungen in Chile in die Politik tragen.
Wer sehen will, wie sehr sich Chile seit den Protesten verändert hat, der geht am besten in die Innenstädte der beiden größten Metropolen des Landes: nach Santiago und Valparaiso.
"Man sieht überall homosexuelle Paare, die in der Öffentlichkeit Händchen halten oder sich küssen. Das ist eine sehr schöne Entwicklung und ich habe das Glück, sie als noch junger schwuler Mann miterleben zu dürfen."
Ein junger Mann mit Mütze und Ohringen steht vor etwas erhöht vor einem Stadtpanorama mit Fluss.
"Die Erwartungen sind riesig!" - Der 25-jährige Ariel Guerrero findet es vor allem wichtig, dass Präsident Boric sich für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stark macht.© Deutschlandradio / Damián Correa Koufen
Ariel Guerrero, 25 Jahre, ist LGBTQ-Aktivist aus der Region Valparaíso. Er hat blondgefärbtes Haar, zwei Ohrringe, an denen Fasanenfedern hängen  - und er unterstützt den neuen Präsidenten:
"Ich glaube nicht, dass er es einfach haben wird, überhaupt nicht. Die Erwartungen sind riesig! Ich hoffe, dass er es schafft, die großen sozialen Reformen anzugehen, für die wir gekämpft haben: Gesundheit, höhere Renten, Einführung eines Mindestlohns.
Was man aber vor allem von ihm erwarten kann, ist, dass er den Verfassungskonvent unterstützt, und das finde ich sehr wichtig."
Ein Referendum über eine neue Verfassung war das größte Zugeständnis, das die konservative Regierung von Sebastián Piñera unter dem Druck der Proteste 2019 machte.

Große Hoffnung auf eine neue Verfassung

"Wir laden euch dazu ein, unsere Initiative zu unterstützen, für das Recht auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung, ohne Profitorientierung.
Es ist sehr wichtig, dass wir genug Unterschriften sammeln, damit sie im Verfassungskonvent diskutiert werden können."
An diesem sonnigen Tag Ende Januar steht Isadora Muñoz mit einem Megafon in der Fußgängerzone im Zentrum Santiagos.

Kampf für ein besseres Gesundheitssystem

Sie und ihre Freundin Catalina Esperanza haben schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem ihres Landes gemacht.
"Mein Vater war herzkrank und ist gestorben, als ich klein war. Das Krankenhaus hat zwei Jahre später bei uns angerufen und gesagt: ‚Hören Sie, wir haben jetzt einen Termin, um das Herz Ihres Mannes zu untersuchen‘", erzählt Isadora.
Und Catalina berichtet:
"Ich war als Kind sehr krank und musste oft in unser öffentliches Krankenhaus. Das war schlimm, es gab immer zu wenig Kapazitäten, oft keine Medikamente und ich musste manchmal zehn Stunden warten, bis ich aufgerufen wurde.
Manche Menschen warten in Decken gehüllt auf dem Krankenhausflur. Andere sterben in den Wartezimmern und auf den Wartelisten für OPs. Das ist Chile! So habe ich es selbst erlebt und deswegen kämpfen wir hier für ein besseres öffentliches Gesundheitssystem."
Ein mit dunklem Holz getäfelter runder Raum mit stufenförmig angeordneten Sitzplätzen für die Parlamentarier:innen.
Der Konvent tagt - eine neue Verfassung, die die alte aus der Pinochet-Diktatur ersetzt, war eine der wesentlichsten Forderungen der Proteste in Chile, die 2019 begannen. © imago images/Agencia EFE
Immer wieder halten Passantinnen und Passanten an, um die Initiative mit ihrer Unterschrift zu unterstützen. Sind es doch vor allem auch die Zustände im Gesundheitswesen Chiles – neben denen im Renten- und Bildungssystem –, gegen die die Menschen auf die Straße gegangen sind.

Sozialstaat als Anliegen

Auch den beiden jungen Frauen ist der chilenische Sozialstaat ein besonderes Anliegen:
"Chile schreibt eine neue Verfassung und wir wollen ein Teil davon sein", sagt Catalina. "Das Ding ist: Es gibt keine Werbung und viele Falschinformationen. Die Fernsehsender sind fast alle privat und berichten kaum über die Verfassung."
Isadora meint: "Wenn wir Unterschriften für eine Reform des Rentensystems sammeln, sagen uns die Leute, ich möchte das nicht unterschreiben, weil sie glauben, dass ihre Rente dann gestrichen wird.
Wir sind hier, um die Leute aufzuklären, zu informieren und ihnen Vertrauen in den Konvent zu vermitteln. Ihnen zu erklären, dass sie jetzt wirklich etwas verändern können."
Die sozialen Proteste hätten das Volk auf "unglaubliche Weise geeint", unterstreicht Catalina. Aber durch die Pandemie sei viel Solidarität verloren gegangen:
"Die Leute haben wieder angefangen, sich zu misstrauen. Man hält Abstand voneinander und schaut sich nicht mehr ins Gesicht. Das hat auch den sozialen Wandel ein wenig ausgebremst."

Der Verfassungskonvent ist das Allerwichtigste

Der Regierungswechsel hat ihrer Freundin, der 27-jährigen  Isadora, neue Hoffnung gegeben:
"Ich bin nicht in Borics Partei, aber ich vertraue darauf, dass er zu seinem Versprechen steht, den Verfassungskonvent bedingungslos zu unterstützen. Und ich glaube, das ist das Allerwichtigste, wichtiger als alles, was die neue Regierung machen kann.
Deswegen geben wir alles, wirklich alles, um ihn zu unterstützen, damit sich endlich die Veränderungen einstellen, die dieses Land so dringend braucht."
Am Ende werden die Unterschriftenlisten von Isadora und Catalina auf dem Schreibtisch von Gaspár Dominguez landen. Der 33-Jährige ist Vizepräsident des Verfassungskonvents.
"Ich habe als Arzt auf dem Land in Patagonien gearbeitet. Mir ist schnell bewusst geworden, dass die Gesundheit der Bevölkerung nicht nur von guten Ärzten und Krankenhäusern abhängt, sondern vor allem auch von den Lebensumständen", sagt er.
"Ich habe gemerkt: Wenn ich für das Wohl, für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger arbeiten möchte, dann muss ich die Chance nutzen, die uns der soziale Wandel in Chile bietet und Abgeordneter im Verfassungskonvent werden. Ich habe mich früher schon in politischen Projekten engagiert, deshalb haben mich die Menschen meiner Region zu ihrem Repräsentanten in den Konvent gewählt."

Bekannte Gesichter der Proteste im Konvent

Korruptionsskandale, Vetternwirtschaft, leere Versprechen: die alten etablierten Parteien hatten bei den Wahlen keine große Rolle mehr gespielt. Schon vorher vertraute ihnen niemand mehr in Chile.
Deshalb entschieden die Bürgerinnen und Bürger im Rahmen des Verfassungsreferendums vor zwei Jahren: Alle Mitglieder des Konvents werden direkt vom Volk gewählt.
"Viele der Menschen, die jetzt im Verfassungskonvent sitzen, kommen aus den sozialen Bewegungen, von der Straße sozusagen. Viele von ihnen sind bekannte Gesichter der Proteste.
Etliche haben keinen Hochschulabschluss, aber dafür sehr viel Erfahrung durch die informelle politische Arbeit, die sie geleistet haben."
Die Konventsmitglieder tagen seit dem Sommer letzten Jahres. Für Dominguez ist der Verfassungskonvent durch seine bloße Existenz schon jetzt ein Erfolg:
"Die letzte Verfassung wurde 1980 in einer Diktatur von acht Menschen, die Pinochet ausgewählt hat, geschrieben. Jetzt machen das 155 demokratisch gewählte Personen, unter ihnen genauso viele Frauen wie Männer.
17 Plätze sind für indigene Völker reserviert und es gibt einige Mitglieder des Konvents, die sich offen dazu bekennen, queer zu sein."
Eine junge Frau mit Mundschutz, langen glatten Haaren und einem kurzen pinkfarbenen Kleid hält im Freien ihren Sohn im Arm.
"Ich habe Angst davor, dass im Chile von morgen mein Sohn nicht mehr allein auf die Straße gehen kann" - die 29-jährige Carey mit ihrem Kind.© Deutschlandradio / Damián Correa Koufen
Ist der Konvent also progressiv? Oder vielleicht doch zu radikal? Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen in Chile:
"Ich glaube nicht, dass man die gesamte Verfassung ändern muss, um mit der Ungerechtigkeit in diesem Land aufzuräumen", sagt Nicole Carey. Sie sitzt an einem langen Tisch auf dem Anwesen ihres Vaters und füttert ihr Baby.

Sie hat für Borics Konkurrenten gestimmt

Nicole kann mit der Euphorie um die neue Verfassung wenig anfangen. Sie misstraut dem Konvent: 
"Die erste Präsidentin dieser Veranstaltung ist vor allem in diese Position gekommen, weil sie eine Mapuche ist und die Leute gesagt haben: ‚Lasst uns eine indigene Frau an die Spitze wählen!‘, aber nicht, weil sie es wirklich verdient hätte.
Ich glaube, die Leute haben genug von diesen Debatten über Sexismus, Machismo und Feminismus, weil über die wahren Probleme gar nicht mehr geredet wird. Was bringt es, wenn diese Präsidentin ihre Rede in der Sprache der Mapuche anfängt, wenn niemand im Saal sie verstehen kann?"

Venezuela hat gratuliert - noch Fragen?

Die 29-Jährige hat für den ultrakonservativen José Antonio Kast gestimmt, der überraschend den ersten Wahlgang der chilenischen Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, im zweiten dann aber deutlich Boric unterlag.
"Ich war auch nicht mit allem einverstanden, was Kast gesagt hat. Aber er war ehrlich und hat den Leuten keine falschen Versprechungen gemacht. Boric hat kaum Erfahrung. Wie möchte er die ganzen sozialen Versprechen umsetzen?
Wir haben hier eine große Wirtschaftskrise, wie sollen wir das alles bezahlen? Ich habe mit einem Venezolaner geredet, der meinte, so hätte es dort auch angefangen mit dem Kommunismus. Maduro, der venezolanische Präsident, hat Boric zu seiner Wahl gratuliert. Das sagt doch alles."
“Chile-Zuela” ist ein geflügeltes Wort unter Gegnern des sozialen Wandels. Die junge Frau macht sich vor allem Sorgen um ihren anderthalbjährigen Sohn.
"Meine Angst als Mutter heute ist, dass ich meinem Sohn nicht die gleichen Möglichkeiten bieten kann, die ich als Tochter eines hart arbeitenden Unternehmers hatte. Ich habe Angst, dass man in dem Land von Boric nicht mehr dafür belohnt wird, wenn man hart arbeitet.
Ich habe Angst um die Sicherheit und davor, dass im Chile von morgen mein Sohn nicht mehr allein auf die Straße gehen kann. Dass es wieder mehr Unruhen und Kriminalität gibt. Und ich muss mir überlegen, ob ich noch ein Kind in dieses Land setzen möchte. Hoffentlich habe ich Unrecht. Wenn nicht, sehen wir uns in Europa wieder, weil wir nicht mit diesem Land zugrunde gehen wollen."
Eine zwei Straßen verbindende Mauer auf der in großen rosa Buchstaben "Coraje" gesprüht wurde.
"Ich habe immer das Wort 'Coraje, Mut', gesprüht" - Graffiti diente während des Aufstands in Chile als sichtbarer Protest der Jugendlichen gegen das konservative Establishment.© Deutschlandradio / Damián Correa Koufen
Nur eine Autostunde von Nicoles Wohnhaus entfernt sprayt Alen Fischersworring in der chilenischen Kleinstadt Quilpué Graffitis. Der 25-Jährige studiert Architektur an der Universität Valparaiso.
"Während des Aufstands hat unsere Szene eine echte Revolution erlebt. Die Leute haben aufgehört, ihre eigenen Namen, ihre eigene Signatur zu sprühen, wie das sonst üblich war. Wir haben uns zusammengeschlossen und die Slogans der Proteste übernommen.
An den Wänden stand jetzt: 'Gerechtigkeit', 'Freiheit' oder 'Sie bringen uns um.' Ich selber habe fast immer das Wort 'Coraje' gesprüht, 'Mut'. Das Ganze hatte einen riesigen Einfluss auf das Stadtbild. In den Zentren der großen Städte ist bis heute alles vollgesprüht mit politischen Parolen."

Ist Boric nicht radikal genug?

Alen gehört zu einer großen Gruppe junger Chileninnen und Chilenen, denen Boric nicht radikal genug ist. “Amarillo” nennen sie ihn, den “Gelben” – in Chile eine Bezeichnung für Politikerinnen und Politiker, die es allen recht machen wollen und dafür ihre Ideale aufgeben.
"Als er den Finanzminister ernannt hat, der davor Chef der Nationalbank und bei der Weltbank war, also ein Wegbereiter des Neoliberalismus in Chile - da fängt man an sich zu fragen: was kann und will Boric  wirklich ausrichten?
Der Preis ist, dass die wirklich tiefgreifenden Reformen mit dieser Regierung wahrscheinlich nicht realisiert werden können. Dass es also keinen echten Wandel geben wird."
Doch gerade weil Gabriel Boric als eher gemäßigt gilt, trauen dem Mann ohne Krawatte und mit Tattoos viele in Chile zu, dass er das Land einen kann. Dass er am Ende auch einige der Anhänger seines konservativen Rivalen Kast hinter sich versammeln wird.
Ihren vielleicht größten Erfolg könnte die soziale Bewegung unter Führung der chilenischen Jugend im September feiern: Dann wird das Volk über den neuen Verfassungsentwurf abstimmen. Vielleicht gibt es dann eine neue Verfassung –  passend zum neuen Präsidenten. Selten war mehr Hoffnung in Chile, nicht nur, aber vor allem auch für die Jungen.
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