Ein scheinheiliges Urteil
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Der in Deutschland lebende Journalist Can Dündar ist in der Türkei zu 27,5 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Begründung: Spionage und Unterstützung einer Terror-Organisation. Das Urteil ist eine weitere Belastungsprobe für das deutsch-türkische Verhältnis.
Das Urteil gegen Can Dündar ist beweiskräftig. Nicht weil darin viele schlagkräftige Beweise gegen den ehemaligen Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet" enthalten wären. Aber weil es ein Beweis dafür ist, wie sehr die türkische Justiz zum Machtinstrument von Staatspräsident Erdoğan geworden ist.
Dündar hat nur seinen Job gemacht
Der hatte 2015 nach der Veröffentlichung eines Berichts der "Cumhuriyet" über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Rebellen in Syrien gedroht, Dündar werde dafür einen hohen Preis bezahlen. Jetzt steht fest, wie hoch dieser Preis ist: 27,5 Jahre Haft. Eine hohe Rechnung für jemanden, der seinen Job gemacht hat.
Dündars Eigentum in der Türkei wurde schon vor dem Urteil vom Staat beschlagnahmt, als Strafe dafür, dass er sich mit seiner Flucht nach Deutschland dem Gerichtsverfahren in der Türkei entzogen hat. Seine Ehefrau war seit 2016 mit einer Ausreisesperre sanktioniert worden, obwohl gegen sie nichts vorlag.
Erst im vergangenen Jahr konnte sie zu ihrem Mann nach Deutschland fliehen. Als würde das nicht reichen, verliert Dündar nun auch noch sein aktives und passives Wahlrecht. Härter kann man einen Menschen in einem Land ohne Todesstrafe kaum bestrafen.
Belastung für das deutsch-türkische Verhältnis
Heikel für das deutsch-türkische Verhältnis dürfte werden, dass in dem Urteil ausdrücklich gefordert wird, einen Auslieferungsantrag an die Bundesrepublik zu stellen. Das deutsch-türkische Verhältnis steht damit vor einer neuen Belastungsprobe. Als gäbe es davon nicht schon genug.
Kurz nach dem Urteil gegen Dündar nahm Staatspräsident Erdoğan vor seiner Fraktion zu einem anderen Fall Stellung: dem des inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte zuvor entschieden, dass Demirtaş sofort aus der bereits vier Jahre andauernden Untersuchungshaft entlassen werden muss.
Die Türkei ist als Mitglied des Europarats an die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs gebunden, setzt sie aber immer seltener um. Erdoğan warf dem Gericht Scheinheiligkeit und Doppelmoral vor, die Entscheidung sei politisch motiviert. Sätze, die wie ein Bumerang erscheinen. Nicht nur, weil das Urteil gegen Can Dündar politisch motiviert ist, sondern auch vor dem Hintergrund, dass Erdoğan davon spricht, ein neues Kapitel in den Beziehungen zu Europa aufschlagen zu wollen.
Es wird einsam um Erdoğan
Erdoğan tut das aus schierer Verzweiflung, weil ihm andere vermeintliche Freunde abhandenkommen: Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gerät er wegen Syrien, Libyen und Berg-Karabach immer häufiger aneinander, sein US-amerikanischer Schutzpatron Donald Trump wird von Joe Biden abgelöst, von dem Erdoğan nichts Gutes erwartet.
Da besinnt man sich in Ankara wieder auf die Europäer. Deren Nähe zu suchen und gleichzeitig Kritiker aller Art einsperren zu lassen, das ist Scheinheiligkeit und Doppelmoral. Und zwar so durchsichtig, dass in Brüssel, Berlin, Paris oder anderswo hoffentlich niemand darauf hereinfällt.