Hohe Selbstmordrate bei türkischen Mädchen
Die Medizinerin Meryam Schouler-Ocak fordert angesichts der im Vergleich zu deutschen Mädchen doppelt so hohen Selbstmordrate unter jungen Türkinnen eine größere Aufmerksamkeit in der Gesellschaft für die Probleme in Migranten-Familien.
Nana Brink: Eine Studie der Berliner Charité hat die bedrückende Wahrheit ans Licht gebracht. Junge Frauen mit vorwiegend türkischem Migrationshintergrund nehmen sich doppelt so häufig das Leben wie gleichaltrige deutsche Mädchen, und aus diesem Grund startet nun heute in Berlin eine Kampagne der Charité mit Plakaten in der U-Bahn und Werbespots unter dem Motto "Beende dein Schweigen, aber nicht dein Leben".
Warum junge Türkinnen so verzweifelt sind manchmal und was man tun kann, damit es nicht zum Äußersten kommt, darüber möchte ich jetzt sprechen mit der Ärztin Meryam Schouler-Ocak. Sie ist Leitende Oberärztin an der Psychiatrische Universitätsklinik der Berliner Charité und hat auch die Studie über die Selbstmordrate junger türkischer Frauen initiiert. Einen schönen guten Morgen, Frau Schouler-Ocak.
Meryam Schouler-Ocak: Guten Morgen!
Brink: Wie sind Sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sich mehr türkische Mädchen als ihre deutschen Altersgenossinnen umbringen?
Schouler-Ocak: Das sind nicht unsere Ergebnisse, sondern das sind Ergebnisse anderer Kollegen, die letztendlich darauf hinweisen, dass in der Tat junge türkischstämmige Mädchen und Frauen sich fast doppelt so häufig suizidieren wie einheimische Gleichaltrige. Wir wollen einfach den Hintergründen nachgehen, warum ist das so. Es geht nicht nur um die Suizidraten, sondern auch die Suizidversuchsraten, die auch deutlich höher liegen als bei gleichaltrigen Einheimischen.
Brink: Sie haben diese Studie initiiert. Was treibt die jungen türkischen Frauen dazu, Ihrer Erfahrung nach, sich das Leben zu nehmen, oder es zu versuchen?
Schouler-Ocak: Ich denke, die Hintergründe sind sehr vielfältig, man muss genauer hinschauen. An vorderster Front stehen natürlich die Dissonanzen, also die Nichtübereinstimmbarkeit der Wertesysteme der Familien, in denen diese jungen Mädchen und Frauen leben, und den Wertesystemen, die sie hier quasi bei der Peergroup, bei gleichaltrigen einheimischen wiederfinden. Beispielsweise gibt es da viele Verbote, dass man zum Beispiel keinen Freund haben darf, dass man nicht in die Disco gehen darf, dass man sich nicht so kleiden darf, wie man möchte, vielleicht aber auch einen Mann heiraten soll, den man vielleicht gar nicht so sehr möchte, oder dass man eine bestimmte Berufsausbildung ausüben möchte oder lernen möchte, was vielleicht den Vorstellungen der Eltern und der familiären Systeme nicht entspricht.
Brink: Was sind Ihre Erfahrungen? Sind diese betroffenen türkischen Mädchen nicht aus Familien, die schon lange in Deutschland sind?
Schouler-Ocak: Ich denke, das hat damit wenig zu tun. Wir müssen uns das so vorstellen, dass die Arbeitsmigrantinnen und –Migranten vor Jahrzehnten hier hergekommen sind und quasi in der Fremde ihre Wertesysteme, Normen, Sitten, Gebräuche etc., weitestgehend behalten haben, sodass die familiären Strukturen mit den ganzen Wertvorstellungen sich nicht wesentlich verändert haben. Das heißt also, das ist meines Erachtens völlig unabhängig davon, wie lange die Familien und die Mädchen hier leben.
Brink: Aber würden Sie denn so weit gehen und sagen, dass die Mädchen dann doch an dem mangelnden Integrationswillen ihrer Eltern verzweifeln?
Schouler-Ocak: Das kann man so krass nicht sagen. Also Integration ist ja ein weitläufiger Begriff. Ich denke, dass die jungen Mädchen einfach anhand der fehlenden Synchronisation der Wertsysteme, die sie in ihren Familienstrukturen leben müssen, und den Wertsystemen in der aufnehmenden Gesellschaft (Schule, Beruf, Freizeit etc.) wahrscheinlich verzweifeln.
Brink: Woher kommen die jungen Frauen, die Sie dann in Ihrer Klinik behandeln?
Schouler-Ocak: Das sind vorwiegend junge aus allen Schichten. Das sind gebildete junge Frauen, junge Mädchen, die auch Abitur machen, oder halt eben keine Schulausbildung haben, junge Frauen und Mädchen, die eben einen Beruf ausüben, oder auch zu Hause sind. Das ist also sehr vielfältig und sehr heterogen.
Brink: Was machen Sie mit den Mädchen, wenn die dann nach einem Selbstmordversuch bei Ihnen landen?
Schouler-Ocak: Wir möchten natürlich in erster Linie sofort helfen, wenn eine akute Gefährdung besteht, natürlich da gleich intervenieren. Wir wollen natürlich wissen: Was hat diese jungen Mädchen oder jungen Frauen dazu bewegt, einen Suizidversuch oder sich das Leben nehmen zu wollen, und wie sind die Zusammenhänge und was kann man da für die jungen Frauen und Mädchen tun, damit sie aus diesem Konflikt rauskommen können. Das heißt, wir reden mit ihnen, wir versuchen, auch die Familie einzubinden, oder den Partner, oder wer auch da mit involviert ist, und versuchen, da gemeinsam einen Lösungsweg zu finden.
Brink: Sprechen Sie dann auch mit den Eltern und sind die eigentlich auch bereit, sich darüber Gedanken zu machen oder das an sich heranzulassen, was mit ihrer Tochter passiert ist?
Schouler-Ocak: Ja. Sehr viele Eltern sind schon bereit, was zu tun, weil sie ja ihre Kinder nicht verlieren wollen, und vor allen Dingen: Es ist ja auch eine große Schande, es ist ja auch ein schambesetztes Thema. Suizid, Suizidalität ist ja etwas, was man nicht so gerne in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in der Familie einfach besprechen möchte. Es ist schon sehr, sehr schambesetzt und man versucht da schon, was zu tun.
Brink: Sie bieten Gespräche an, aber manchmal hilft ja alles Reden nichts mehr. Was können Sie dann noch anbieten, damit es nicht zum Äußersten kommt?
Schouler-Ocak: Wenn das Sprechen nicht mehr hilft, dann muss man vielleicht etwas genauer informieren, was die Konsequenzen sein können auch für die Familien, für die Partner, und im Notfall ist es einfach so, dass wir die jungen Frauen aus der Familie unterstützen, rauszukommen, also letztendlich woanders unterzukommen.
Brink: Heute läuft Ihre Kampagne in Berlin an: "Beende dein Schweigen, aber nicht dein Leben". Glauben Sie, dass Sie die verzweifelten Mädchen damit erreichen können, mit Werbespots in der U-Bahn und im Radio?
Schouler-Ocak: Wir hoffen es auf jeden Fall. Wir haben ja eine Hotline eingerichtet, eine anonyme deutsch-türkische Krisen-Hotline, wo man anrufen kann und quasi anonym für sich oder für Freunde oder Freundinnen Hilfe holen kann, also Hilfestellung holen kann. Wir werden an dieser Hotline beraten, wir werden Hilfsmöglichkeiten aufzeigen etc. Also wir hoffen schon, dass wir mit unserer Aufklärungskampagne gerade diese Zielgruppe erreichen.
Brink: Meryam Schouler-Ocak, Leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité, und wir sprachen über die steigende Selbstmordrate bei jungen Migrantinnen in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch.
Schouler-Ocak: Ich danke auch.
Warum junge Türkinnen so verzweifelt sind manchmal und was man tun kann, damit es nicht zum Äußersten kommt, darüber möchte ich jetzt sprechen mit der Ärztin Meryam Schouler-Ocak. Sie ist Leitende Oberärztin an der Psychiatrische Universitätsklinik der Berliner Charité und hat auch die Studie über die Selbstmordrate junger türkischer Frauen initiiert. Einen schönen guten Morgen, Frau Schouler-Ocak.
Meryam Schouler-Ocak: Guten Morgen!
Brink: Wie sind Sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sich mehr türkische Mädchen als ihre deutschen Altersgenossinnen umbringen?
Schouler-Ocak: Das sind nicht unsere Ergebnisse, sondern das sind Ergebnisse anderer Kollegen, die letztendlich darauf hinweisen, dass in der Tat junge türkischstämmige Mädchen und Frauen sich fast doppelt so häufig suizidieren wie einheimische Gleichaltrige. Wir wollen einfach den Hintergründen nachgehen, warum ist das so. Es geht nicht nur um die Suizidraten, sondern auch die Suizidversuchsraten, die auch deutlich höher liegen als bei gleichaltrigen Einheimischen.
Brink: Sie haben diese Studie initiiert. Was treibt die jungen türkischen Frauen dazu, Ihrer Erfahrung nach, sich das Leben zu nehmen, oder es zu versuchen?
Schouler-Ocak: Ich denke, die Hintergründe sind sehr vielfältig, man muss genauer hinschauen. An vorderster Front stehen natürlich die Dissonanzen, also die Nichtübereinstimmbarkeit der Wertesysteme der Familien, in denen diese jungen Mädchen und Frauen leben, und den Wertesystemen, die sie hier quasi bei der Peergroup, bei gleichaltrigen einheimischen wiederfinden. Beispielsweise gibt es da viele Verbote, dass man zum Beispiel keinen Freund haben darf, dass man nicht in die Disco gehen darf, dass man sich nicht so kleiden darf, wie man möchte, vielleicht aber auch einen Mann heiraten soll, den man vielleicht gar nicht so sehr möchte, oder dass man eine bestimmte Berufsausbildung ausüben möchte oder lernen möchte, was vielleicht den Vorstellungen der Eltern und der familiären Systeme nicht entspricht.
Brink: Was sind Ihre Erfahrungen? Sind diese betroffenen türkischen Mädchen nicht aus Familien, die schon lange in Deutschland sind?
Schouler-Ocak: Ich denke, das hat damit wenig zu tun. Wir müssen uns das so vorstellen, dass die Arbeitsmigrantinnen und –Migranten vor Jahrzehnten hier hergekommen sind und quasi in der Fremde ihre Wertesysteme, Normen, Sitten, Gebräuche etc., weitestgehend behalten haben, sodass die familiären Strukturen mit den ganzen Wertvorstellungen sich nicht wesentlich verändert haben. Das heißt also, das ist meines Erachtens völlig unabhängig davon, wie lange die Familien und die Mädchen hier leben.
Brink: Aber würden Sie denn so weit gehen und sagen, dass die Mädchen dann doch an dem mangelnden Integrationswillen ihrer Eltern verzweifeln?
Schouler-Ocak: Das kann man so krass nicht sagen. Also Integration ist ja ein weitläufiger Begriff. Ich denke, dass die jungen Mädchen einfach anhand der fehlenden Synchronisation der Wertsysteme, die sie in ihren Familienstrukturen leben müssen, und den Wertsystemen in der aufnehmenden Gesellschaft (Schule, Beruf, Freizeit etc.) wahrscheinlich verzweifeln.
Brink: Woher kommen die jungen Frauen, die Sie dann in Ihrer Klinik behandeln?
Schouler-Ocak: Das sind vorwiegend junge aus allen Schichten. Das sind gebildete junge Frauen, junge Mädchen, die auch Abitur machen, oder halt eben keine Schulausbildung haben, junge Frauen und Mädchen, die eben einen Beruf ausüben, oder auch zu Hause sind. Das ist also sehr vielfältig und sehr heterogen.
Brink: Was machen Sie mit den Mädchen, wenn die dann nach einem Selbstmordversuch bei Ihnen landen?
Schouler-Ocak: Wir möchten natürlich in erster Linie sofort helfen, wenn eine akute Gefährdung besteht, natürlich da gleich intervenieren. Wir wollen natürlich wissen: Was hat diese jungen Mädchen oder jungen Frauen dazu bewegt, einen Suizidversuch oder sich das Leben nehmen zu wollen, und wie sind die Zusammenhänge und was kann man da für die jungen Frauen und Mädchen tun, damit sie aus diesem Konflikt rauskommen können. Das heißt, wir reden mit ihnen, wir versuchen, auch die Familie einzubinden, oder den Partner, oder wer auch da mit involviert ist, und versuchen, da gemeinsam einen Lösungsweg zu finden.
Brink: Sprechen Sie dann auch mit den Eltern und sind die eigentlich auch bereit, sich darüber Gedanken zu machen oder das an sich heranzulassen, was mit ihrer Tochter passiert ist?
Schouler-Ocak: Ja. Sehr viele Eltern sind schon bereit, was zu tun, weil sie ja ihre Kinder nicht verlieren wollen, und vor allen Dingen: Es ist ja auch eine große Schande, es ist ja auch ein schambesetztes Thema. Suizid, Suizidalität ist ja etwas, was man nicht so gerne in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in der Familie einfach besprechen möchte. Es ist schon sehr, sehr schambesetzt und man versucht da schon, was zu tun.
Brink: Sie bieten Gespräche an, aber manchmal hilft ja alles Reden nichts mehr. Was können Sie dann noch anbieten, damit es nicht zum Äußersten kommt?
Schouler-Ocak: Wenn das Sprechen nicht mehr hilft, dann muss man vielleicht etwas genauer informieren, was die Konsequenzen sein können auch für die Familien, für die Partner, und im Notfall ist es einfach so, dass wir die jungen Frauen aus der Familie unterstützen, rauszukommen, also letztendlich woanders unterzukommen.
Brink: Heute läuft Ihre Kampagne in Berlin an: "Beende dein Schweigen, aber nicht dein Leben". Glauben Sie, dass Sie die verzweifelten Mädchen damit erreichen können, mit Werbespots in der U-Bahn und im Radio?
Schouler-Ocak: Wir hoffen es auf jeden Fall. Wir haben ja eine Hotline eingerichtet, eine anonyme deutsch-türkische Krisen-Hotline, wo man anrufen kann und quasi anonym für sich oder für Freunde oder Freundinnen Hilfe holen kann, also Hilfestellung holen kann. Wir werden an dieser Hotline beraten, wir werden Hilfsmöglichkeiten aufzeigen etc. Also wir hoffen schon, dass wir mit unserer Aufklärungskampagne gerade diese Zielgruppe erreichen.
Brink: Meryam Schouler-Ocak, Leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité, und wir sprachen über die steigende Selbstmordrate bei jungen Migrantinnen in Deutschland. Vielen Dank für das Gespräch.
Schouler-Ocak: Ich danke auch.