Ein Großkopf des 17. Jahrhunderts
Louis Andriessens Spätwerk "Theatre of the World" ist in Amsterdam zu erleben − eine Szenenfolge, die auf den jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher rekurriert. Das neue Welttheater ist ein altersweises, keineswegs zahnloses Stück von Gott und der Welt.
Mit "Theatre of the World" hat sich Louis Andriessen auf eine Zeitreise begeben. Das ist, nach Bernhard Langs "Golem" in Mannheim und Moritz Eggerts "Terra Nova" in Linz, die dritte neue Oper, die in den letzten drei Monaten nach diesem Strickmuster angelegt wurde. Allerdings erwies sie sich als die vergleichsweise gelungenste: Magnificent in der Würdigung eines großen Gelehrtenlebens und mit den prächtigen Bläser-Elogen eines und historisch informierten Spezial-Ensembles, mit der phantastischen Möblierung der Arena des ehemaligen Königlichen Zirkus-Gebäudes, opulenten Video-Einspielungen und den Kostümen, die Florence von Gerkan schneidern ließ.
Gestützt auf ein Libretto von Helmut Krausser entwickelt "Theatre of the World" eine Szenenfolge, die auf den jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher rekurriert, der sich im Rom der frühen Neuzeit einen Ruf als Mathematiker, Physiker und Astronom, aber auch als Ägyptologe, Sinologe, Vulkanologe, Biologe, Bakteriologe und Musiktheoretiker erwarb. Kircher – und auch das berücksichtigt das Libretto – gehörte zu den Pionieren, die Blut von Pestkranken mit dem Mikroskop untersuchten und einen Maßnahmenkatalog gegen die weitere Ausbreitung der Seuche empfahlen.
Polyglottes und groteskes Treiben
Der vielseitig interessierte und hoch talentierte Großkopf des 17. Jahrhunderts wird durch breit und teuer angelegte, zugleich buffonesk pointierte und tiefgestaffelt kultursinnige Maßnahmen für Augen und Ohren attraktiv: Durch Rückblenden zu seinen Forschungs- und Kopfreisen ans Ufer des Flusses Lethe, ins Ägypten der Pharaonen, in die Gegend des heutigen Bagdad zum Turmbau zu Babel (und zu statischen Berechnungen für den Fall, dass er tatsächlich bis in den siebten Himmel hochgezogen worden wäre). Nachdem sich mit drei Hexen die Mit- und mit vier Kulturkoryphäen die Nachwelt zu Kircher als Mensch und zur Bewertung der Lebensleistung äußerten, wird das polyglotte, turbulente, groteske und den Gesetzen der Logik enthobene Treiben von einer mit barockem Prunk ausgestatteten Schluss-Sequenz gekrönt: "Zijn nam zal vortleven".
Das neue Welttheater entrollt sich im Ambiente eines aufgelassenen Friedhofs mit aufgerissenen Gräbern, aus deren Mitte ein gigantischer Zauberer-Hut bis zur schwarz-weiß ans Theaterfirmament gehefteten Sonne reicht. In dieser Bühnenlandschaft treiben sich Prof. Dr. Kircher herum, Papst Innozenz XI. mit extra-intensivem Tenor und ein Knabe, der einer von Kirchers Schülern, er selbst als Junge oder der Teufel persönlich sein mag.
Glühend geliebt: Die fromm dichtende Nonne
Sie treiben es mit einem guten halben Dutzend Sprachen: Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Latein, Deutsch und Mittelhochniederländisch. Leigh Melrose als Sängerdarsteller des alten Kircher ist mit seinem virilen und differenziert eingesetzten Bariton von Anfang bis Ende Zentrum des musikdramatischen Geschehens. Ihm wurden aber von Andriessen keine so effektiv starken Gesangsnummern zugeschrieben wie Lindsay Kesselman, die ihn auf all seinen Wegen als Knabe begleitet und ihm Widerpart leistet, oder Cristina Zavelloni als die aus der Ferne glühend geliebte fromm dichtende mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz.
Louis Andriessen Schreibweisen dürfen als Niederschlag von niederländischem Pragmatismus gelten: Polyglott wie das Libretto, stilistisch demonstrativ nicht stubenrein, sondern angereichert auch mit rebellischem Potential des musikalischen 20. Jahrhundert, diversen Anleihen bei der Tanz- und Unterhaltungsmusik, überhaupt einer scheinbaren "Unbedenklichkeit" hinsichtlich des Materials und der Verfahrensweisen. Für die musikalische Realisierung kehrte das AskoISchönberg-Ensemble nach langer Pause mit Reinbert de Leeuw (Jahrgang 1938) wieder an die Amsterdamer Oper zurück und präsentierte die stark bläserlastige Partitur mit einer Vitalität, um die sie manch Jüngere beneiden könnten.
Der Hausherr selbst inszenierte: Pierre Audi, seit drei Jahrzehnten und auf Lebenszeit unumschränkter Herr der Niederländischen Nationaloper und des Holland Festivals, präsentierte eine turbulente Illustration des Kircherschen Lebens. Am Ende noch von einem nachgeborenen Herrenquartett – Voltaire, Descartes, Goethe und Leibnitz – gerühmt und relativiert und damit die ganze Unternehmung auch auf die Ebene von Bildungstheater gehoben. Das neue Amsterdamer Welttheater ist ein altersweises und doch keineswegs zahnloses Stück von Gott (mitsamt seinen fragwürdigen Dienern) und der Welt – mitsamt dem auf sie gerichteten Erkenntnisdrang.