Die Namen der Verfolgten
Die Berliner Kantorin Avitall Gerstetter singt für die von den Nazis Verfolgten und Ermordeten - so will sie ihre Namen in Erinnerung bringen und gegen das Vergessen angehen.
Es gibt Verbrechen, die verjähren nicht. Und es ist ein Aufbegehren gegen den Vernichtungswillen der Täter, wenn die von ihnen Verfolgten und Ermordeten Namen und Gesicht erhalten. Die Rechte, die ihnen genommen wurden, sollen ihnen wenigstens in der Erinnerung an sie zurückgegeben werden. Darum ringen oftmals auch die Nachkommen der Opfer.
Norbert Kampe, Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, erzählt von einer amerikanischen Journalistin, die nach Berlin kam, in die Stadt, in der ihr jüdischer Großvater zuhause war. Er musste sie verlassen, um vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die USA zu emigrieren - ein Heimatverlust, den er nie verwunden hat:
"Sie hat dann aus prinzipiellen Erwägungen, weil ihr Großvater so drunter gelitten hat, also allen Emigranten ist ja im Reichsanzeiger die Staatsbürgerschaft entzogen worden, auch den Deportierten und Ermordeten wurde richtig offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Und da hat er sehr drunter gelitten, weil er so sehr deutsch war, also was weiß ich, Schiller und Goethe auswendig stundenlang zitieren konnte. Und daraufhin hat sie sich diesem Stress unterzogen und hat beim Ausländeramt durchgekämpft, hat sich die deutsche Staatsbürgerschaft geholt, einfach nur so aus Prinzip, sie wollte die wieder haben."
"We will remember them"
Ganz anders tritt Avitall Gerstetter für ihre Verwandten ein. Die jüdische Kantorin singt für sie. Für sie und all jene, die dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind, aber auch für jene, die den Vernichtungslagern entkommen konnten. Erst kürzlich hat sie ihrer im Haus der Wannseekonferenz, wo die so genannte "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, mit ihren Liedern gedacht. Liedern, die von großem Leid erzählen, aber auch zum Ausdruck bringen: Alle konntet ihr nicht ums Leben bringen und an die, die ihr ermordet habt, werden wir erinnern. "We will remember them", wie eines ihrer Lieder heißt.
Avitall Gerstetter denkt bei ihren Liedern auch an eine Schwester ihrer Großmutter, von deren Geschick sie als Kind erfuhr:
"Als ich acht Jahre alt war, hab ich meine Großtante in Israel besucht und habe diese Nummer gesehen, es war warm, sie trug nur ein T-Shirt, und habe sie darauf angesprochen. Und meine Großtante war ganz erstaunt, dass mich das so interessierte, da sie mit ihren eigenen Kindern nie darüber gesprochen hatte."
Es ist die Nummer einer Gefangenen von Auschwitz, die Avitalls Großtante auf ihrem Arm trägt. Sie hat die Schrecken der Nazi-Zeit überlebt. Anders als ihre Schwester Rozsika. Rozsika wurde gleich am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz ins Gas geschickt. Sie war acht Jahre alt, so alt wie Avitall, als sie von ihrer Großtante davon erfuhr. Um den Schmerz über diesen Verlust zu verarbeiten, wollte Avitall Rozsikas Geschichte erzählen. Bei ihrer Beschäf-tigung damit traf sie auf Inbal Leitner, eine israelische Buchillustratorin, die ähnlich leidvolle Erfahrungen gemacht hat. Ihre Großtante Hanna war 16, als sie in Auschwitz ums Leben kam:
"Meine Großtante war blond und blauäugig, also entsprach überhaupt nicht dem typisch jüdischen Aussehen, wie Hitler es beschrieben hat, und Hanna war dunkelhaarig und hatte braune Augen. Und gerade diesen Kontrast fand ich so interessant zu zeigen und deswegen hab ich Inbal Leitner gefragt, ob sie sich vorstellen könne, auch Hanna, also ihre Großtante, mit in diese Geschichte hinein zu nehmen."
Avitall Gerstetter tourt von Auschwitz nach Berlin
"Hanna und Rozsika", nach den Namen ihrer Großtante und der von Inbal Leitner, hat Avitall Gerstetter ihre Geschichte genannt. Sie hat Lieder dazu geschrieben und die Geschichte in eine Bühnenfassung gebracht. Am 27. Januar, dem Shoah-Gedenktag, wird sie im Berliner Dom aufgeführt. Die Aufführung ist Teil einer Konzertreise in Erinnerung an die Opfer der Shoah. Begonnen hat sie am Ort der Vernichtung, in Auschwitz, hat Station gemacht im Haus der Wannseekonferenz und findet nun ihren Abschluss im Berliner Dom. Avitall Gerstetter kehrt so den Leidensweg der Juden um. Von Berlin ging der Beschluss zu ihrer Vernichtung aus und führte nach Auschwitz. Avitall Gerstetter bringt nun die Toten zurück, vom Ort der Vernichtung nach Berlin. Sie bringt sie zurück ins Leben, in unsere Gegenwart.
"We will call out your name", "wir werden eure Namen rufen" hat Avitall Gerstetter ihr Projekt genannt. Dieses Jahr erinnert sie vor allem an zwei Namen und die Menschen, die mit ihnen verbunden sind: an Hanna und Rozsika. Aber das ist für sie erst der Anfang. Denn sie möchte ihr Projekt auch in den kommenden Jahren weiter führen:
"Ich möchte natürlich viele Geschichte erzählen. Ich setze bei meiner eigenen persönlichen Geschichte an, und ich sehe es als Auftakt und möchte ganz viele weitere Geschichten in den nächsten Jahren erzählen von ganz anderen Menschen, die ähnliches Leid in ihrer Familie erlitten haben."
Namen für Namen möchte Avitall Gerstetter rufen, Person für Person zurückholen aus dem Vergessen. Es ist ihr Protest gegen das Zerstörungswerk der Peiniger, aber auch eine zarte Totenklage, die zugleich durch das Erinnern wieder ins Leben ruft. So gibt Avitall Gerstetter
den Opfern der Shoah ein Gesicht und den Entrechteten ihr Recht zurück. Wie es die amerikanische Journalistin für ihren Großvater getan hat, von der Norbert Kampe erzählt:
"Als sie dann den deutschen Pass bekam und die deutsche Staatsbürgerschaft, da hat sie den hoch gehalten und hat gesagt: Grandpa, this is for you. I made this for you. Und wie sie runter guckt, haben die da alle geheult in dem Raum."