Die Rettung vor Augen – und dann verraten
Sie hofften auf ihre baldige Befreiung, doch es kam anders: Im August 1944 wurden Anne Frank, ihre Familie und vier weitere Niederländer von den Deutschen entdeckt und nach Auschwitz deportiert. Wer sie verraten hat, ist bis heute unklar.
BBC-Nachrichten: "This is London calling – here is a news flash: Under the command of General Eisenhower Allied Navy Forces, (...) began landing allied armys this morning on the northern coast of France."
Brief von Anne Frank: "Dienstag, 6. Juni 1944. Liebste Kitty! (...) die Invasion hat begonnen. (...) Das Hinterhaus ist in Aufruhr. Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen? (...) Wir wissen es noch nicht, aber die Hoffnung belebt uns, gibt uns wieder Mut."
Als Anne Frank diese Zeilen an ihre fiktive Vertraute "Kitty" in ihr Tagebuch schreibt, lebt sie schon fast zwei Jahre in einem Amsterdamer Hinterhaus − zusammen mit ihren Eltern, ihrer Schwester Margot und vier weiteren Juden, die vor den Nazis untertauchen mussten. Ihr Versteck ist ein schmales Klinkerhaus in der Prinsengracht 263, der Sitz einer Handelsfirma. Versorgt werden sie von fünf Holländern, die im Vorderhaus arbeiten, darunter die Sekretärin Miep Gies:
"Es ist uns alles gelungen, nur das eine nicht: (...) Wir sind gestrandet mit dem Hafen in Sicht."
Der rettende "Hafen" – das sind im Sommer 1944 die Alliierten. Wie elektrisiert lauschen die Untergetauchten abends den Radioberichten über die vorrückenden Truppen. Hoffnung keimt auf, sie werden unvorsichtig. Anne – gerade 15 geworden – beschreibt am 8. Juli 1944, wie die acht mit ihren Helfern kiloweise Marmelade kochen:
"Versteckte und Versorgungskolonne, alles durcheinander, und das mitten am Tag! Die Vorhänge und Fenster offen, lautes Reden, schlagende Türen. Vor lauter Aufregung bekam ich Angst (...) Da klingelte es zweimal!"
Gestapo gelangt unbemerkt ins Haus
Diesmal ist es nur der Postbote ... Einen Monat später, am 4. August 1944 gegen halb elf, rückt die Gestapo an. Unbemerkt gelangen ein SS-Oberscharführer und drei niederländische Nazis ins Haus.
Miep Gies: "Erst ist ein Holländer hereingekommen in Büro. Wir saßen zu dritt. Elli, Herr Koiphues und ich. Und der Holländer richtete eine Pistole auf mich und sagte: 'Sitzenbleiben! Verhalten Sie sich ruhig!'"
Die Eindringlinge wissen genau, wo sie suchen müssen. Ein anonymer Anrufer hat sie informiert. Schnell finden sie den drehbaren Aktenschrank, den Zugang zum Versteck. Mit gezogenen Pistolen steigen sie die Treppe hinauf: Keine Schreie, kein Tumult − die Untergetauchten sind starr vor Schreck.
Von wem sie verraten wurden, ist bis heute nicht klar. Hans Westra, langjähriger Direktor der Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung:
"Wenn man einen Juden verraten hatte, musste man Geld bekommen, ziemlich viel Geld. Es ist nie eine Quittung gefunden, es sind verschiedene Theorien, wer es getan hat. Aber der Kreis von Leuten, die es getan haben könnten, ist ziemlich groß."
Erinnerung an letzte Begegnung mit Anne
Lange wird ein Lagerarbeiter verdächtigt, doch es fehlen Beweise. Eine weitere Spur führt zu einem Amsterdamer Kleinkriminellen, der Otto Frank erpresst und dann ans Messer geliefert haben soll. Doch es gibt auch hier Zweifel, dass der inzwischen Verstorbene für das Schicksal der Untergetauchten verantwortlich ist: Sie werden Anfang September 1944 nach Auschwitz deportiert. Anne und Margot werden später nach Bergen-Belsen verschleppt, erkranken dort Anfang 1945 an Typhus. Die Mitgefangene Lin Jildati erinnert sich an ihre letzte Begegnung mit Anne:
"Es war ein Mädchen von noch keine 16 Jahren. Es hat ausgesehen wie eine Frau von 40, 50 Jahren. Und dann abends. Sie kamen ins Block und wir mussten immer unsere Listen abliefern, wer bei uns im Block gestorben war: 'Frank, Anne, Margot – ausstreichen – kein Brot heute'".
Otto Frank, der als einziger der acht Untergetauchten den Holocaust überlebt, sorgt nach dem Krieg dafür, dass das Tagebuch seiner Tochter veröffentlicht wird. Miep Gies hat das karierte Büchlein aus der Prinsengracht 263 für die Nachwelt bewahrt. Sie fühlt sich ihr Leben lang besonders mit Anne verbunden:
"Ich habe Bergen-Belsen besucht, und ich hoffte nur eines: dass meine Fußtritte vielleicht den ihrigen dort begegneten."
Bis zu ihrem Tod 2010 verließ Miep Gies nie am 4. August ihre Wohnung: Am Jahrestag der Verhaftung überwältigte sie jedes Mal von Neuem die Trauer.