Holocaust-Erinnerung mit "Zweitzeugen"

Wie Geschichte weiterlebt

28:23 Minuten
Die Shoah-Überlebende Frieda Kliger sitzt an ihrem Küchentisch und blickt nachdenklich. Auf Ihrem linken Arm ist eine tätowierte Nummer erkennbar.
Die Shoah-Überlebende Frieda Kliger an ihrem Küchentisch in Israel - sie erzählt ihre Geschichte "Zweitzeugen" weiter. © Zweitzeugen e.V. / Sarah Hüttenberend
Von Elin Hinrichsen |
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Bald wird es keine Überlebenden mehr geben, die als Zeitzeugen über den Holocaust berichten könnten. Deshalb bildet ein Verein "Zweitzeugen" aus - junge Menschen, die eine Lebensgeschichte adoptieren und so zum Sprachrohr der Geschichte werden.
Ein buntes Durcheinander im Lehrerzimmer in Duisburg. Es ist Projektwoche, also viel Arbeit. Das Kollegium hat sich Unterstützung von außen geholt: Meggie, 28 und Vanessa, Anfang 30. Beide arbeiten für den Verein "Zweitzeugen e.V. – Heimatsucher heute".
"Deutschland nach 1945" ist das Thema der Projektwoche. Das passt genau zur Arbeit des Vereins. Die Zweitzeugen erzählen deutschlandweit Viertklässlern und älteren Schülern Geschichten von Zeitzeugen, von Überlebenden der Verfolgung und Vernichtung im nationalsozialistischen Deutschland.

Die meisten Zeitzeugen sind zu alt, um zu sprechen

Meggie soll heute die Geschichte der Jüdin Frieda Kliger erzählen. Frieda lebt noch, sie ist 99 Jahre alt und seit kurz nach dem zweiten Weltkrieg in Israel zuhause. Viele der Zeitzeugen können – selbst wenn sie wollten – nicht mehr öffentlich über das sprechen, was sie erlebt haben. Sie sind zu alt oder bereits verstorben.
Menschen wie Meggie machen sich zu ihrem Sprachrohr und erzählen die Geschichten der Alten weiter. Sie sind Zeugen der Zeitzeugen, sagen sie und nennen sich und alle, die die Geschichten hören "Zweitzeugen".
Meggie versucht es also heute in einer 10. Klasse an der "Gesamtschule am Globus", einer Schule in einem bunt gemischten und sozial problematischen Stadtteil in Duisburg. Sie will den Schülerinnen und Schülern die Lebensgeschichte von Frieda Kliger aus zweiter Hand so nahe bringen, wie es normalerweise nur in der direkten Begegnung gelingt.
Meggie vor Frieda Kligers Porträt
Meggie arbeitet als "Zweitzeugin" und zeigt einer Schulklasse das Porträt von der Zeitzeugin Frieda Kliger.© Elin Hinrichsen
Meggie ist aufgeregt. Sie verbindet ihren Laptop mit dem Beamer, ganz kurz flimmert Frieda Kligers Porträtfoto an der Wand: Frieda an ihrem Küchentisch in Israel. Sie guckt mürrisch und an der Kamera vorbei auf den Boden. Ihre Körperhaltung wirkt abwehrend.
Sie trägt einen kurzärmeligen Pullover und hat die Hände auf den Tisch gelegt. Ihre Häftlingsnummer aus dem KZ ist klar zu sehen, auf ihrem Unterarm: 48427. Das Foto ist Teil einer Wanderausstellung von Porträts Überlebender - eine Ausstellung, die Auslöser dafür war, dass Meggie und Vanessa jetzt vor den Jugendlichen in der Schule stehen. Aber dazu später.

Herausforderungen als Zweitzeugin

Meggie begrüßt alle, Vanessa steht erstmal daneben. Weil Meggie noch die Übung fehlt, ist sie mitgekommen. Es ist ein halbes Jahr her, dass Meggie zuletzt so vor einer Klasse stand. Dieser Workshop ist für die Studentin Ehrenamt - und eine Herausforderung, jedes Mal.
"Ja, auf jeden Fall, man muss schon an sehr, sehr viele Sachen gleichzeitig denken."
Vanessa und Meggie - zwei Zweitzeuginnen - in der Schulklasse
Vanessa Eisenhardt (r.) begleitet Meggie bei ihrem Termin in der Schule.© Elin Hinrichsen
Vanessa Eisenhardt vom Verein Zweitzeugen ist Historikerin und weitaus geübter als Meggie. Sie leitet solche Workshops seit vielen Jahren und bildet neue Zweitzeugen wie Meggie aus. Vanessa bringt die Schülerinnen und Schüler jetzt in Bewegung - und in Stimmung. Zwei Dutzend Postkarten liegen auf dem Fußboden verteilt. Jede Karte trägt ein prägnantes Zitat eines oder einer Zeitzeugin.
"Bitte auf dem Boden liegen lassen, damit die anderen das auch lesen können und Ihr könnt auch gerne ein bisschen rumgehen, denn manche liegen auf dem Kopf!"
Vanessa und Meggie fordern die Jugendlichen auf, vorzulesen.
"Wenn die Schüler Dich rufen, dann gehe hin. Und wenn Du nur ein Kind von 50 davon überzeugen kannst, dass Juden nicht schlechter sind als die Christen, dann hast Du viel erreicht", das steht auf der Postkarte, die ein Junge in der Hand hält. Daneben steht ein Mädchen: "Ich will erzählen, was ich durchgemacht habe, damit das Geschehene nicht noch einmal durchgelebt werden muss."
Auch von Frieda, um deren Geschichte es gleich geht, ist eine Postkarte dabei. "Ich wollte sterben", steht darauf, auf Englisch, "aber als er schrie, 'lauf!' da rannte ich. Ich habe mich nicht umgebracht. Der Instinkt zu leben war immer noch größer als zu sterben. Es war vorbestimmt, dass ich überlebe."
Das Zitat ist deshalb auf Englisch geschrieben, weil Frieda nie wieder Deutsch sprechen oder hören wollte. Sie kauft bis heute keine deutschen Glühbirnen, obwohl die länger halten als israelische. Frieda tauscht die Birnen lieber immer wieder aus, erzählt Vanessa später. Sie kennt die Lebensläufe der 37 Zeitzeugen in- und auswendig, die der Verein bislang interviewt hat.
Die Zitate-Karten sind ein wichtiger Bestandteil der Methodik – so gehen die Jugendlichen im Klassenraum umher, nähern sich dem Thema und müssen nicht stillsitzen.

Für wen möchte und kann ich sprechen?

Vanessa übernimmt die Leitung, Meggie hält sich im Hintergrund. Mit einem Auge studiert sie, wie Vanessa die Schüler langsam einfängt; mit dem anderen vertieft sie sich in ihre Unterlagen. Schnell noch mal ein paar Daten und Stationen aus Frieda Kligers Leben wiederholen: 1921 in Polen geboren; bei Gründung des Warschauer Ghettos 1940 Zwangsumzug dorthin, da war sie 19 Jahre alt; dann Deportation ins KZ Majdanek, dann Auschwitz, Ravensbrück, Bergen-Belsen.
"Ich hab im Oktober eine Bildungsreise in Polen gemacht und habe dort sehr viele Orte des Nationalsozialismus besucht und fand es dann schön, eine Geschichte auszusuchen, die eine Verbindung dazu hat und Friedas Geschichte ist auch eine, die sich nicht so gut für kleinere oder jüngere Kinder erzählen lässt. Aber ich glaube, das passt hier ganz gut, die sind alt genug, um damit umgehen zu können. Und ich fand einfach ihre Geschichte und ihre Person wahnsinnig beeindruckend."
Vanessa ist froh jemanden gefunden zu haben, der das Sprachrohr, die "Zweitzeugin" von Frieda sein möchte. Sie hat es auch versucht, aber nicht geschafft.
"Ja, deshalb erzähle ich auch Frieda Kligers Geschichte nicht, weil ich das einfach nicht kann. Mir fällt das wahnsinnig schwer, diesen Part zu erzählen, wenn der Neffe weggebracht wird. Also, wenn Frieda ganz normal zur Arbeit geht und dann sagt: 'Das einzige, was mich aufrecht erhalten hat den Tag durchzustehen, ist, dass ich nachmittags in die Kinderbaracke kam, um meinen Neffen zu sehen'", erzählt Vanessa.
"Und dann kommt Frieda eben nachmittags zurück und sagt: 'Mir ist es schon aufgefallen, dass es so komisch leise war, weil in der Kinderbaracke ist es eigentlich immer laut', und an dem Tag sind dann die Kinder abgeholt worden. Es fällt mir wahnsinnig schwer, das zu erzählen und die Fassung zu behalten."

Meggie hat Frieda nie getroffen

Vanessa hat Frieda nie getroffen. Meggie auch nicht. Sie kennen Friedas Geschichte aus dem Archiv des Vereins. Meggie hat sich nach ihrer Rückkehr aus Polen bei den Zweitzeugen als Ehrenamtliche gemeldet. Sie hat dort die verschiedenen Lebensläufe studiert und die Portraitfotos angeschaut. Und sich für Friedas Geschichte entschieden.
Meggie hat jetzt das Anleiten der Schülerinnen und Schüler übernommen. Bevor sie in das Leben von Frieda eintauchen, sprechen sie über ihr eigenes. So können sie vergleichen. Sie sitzen im Stuhlkreis, die Studentin mittendrin. Gerade haben sie noch erarbeitet, wie ein ganz normaler Tag im Leben der Jugendlichen aussieht. Milch und Ei oder Köfte und Fladenbrot zum Frühstück oder Pfannkuchen mit Speck - die Jugendlichen haben Wurzeln in aller Herren Länder. Dann zur Schule gehen. Dann Hausaufgaben am Nachmittag, Sport treiben und sich mit Freunden treffen.
Auf ihrem Schoß hat Meggie einen dicken Stapel laminierter Karteikarten liegen: die Anti-Jüdischen Gesetze in Deutschland ab 1933. Erst, so liest sie vor, dürfen Jüdinnen und Juden nicht mehr als Arzt, Jurist oder Lehrer arbeiten. Dann dürfen jüdische Kinder nicht mehr auf die allgemeinbildenden Schulen gehen. Später gibt es sich steigernde Einkaufsverbote: Juden dürfen keine Schokolade, keinen Kuchen, keine Milch, keine Eier und am Ende gar nichts mehr kaufen.
Stirnrunzeln und Unverständnis bei den Schülerinnen und Schülern. Was sollte das alles? Mit jedem Gesetz wischt Vanessa an der Tafel eine Sache mehr aus, die für die Jugendlichen heute zum normalen Tagesablauf dazu gehört.
"Also. Ihr könnt größtenteils nicht mehr das frühstücken, was Ihr gefrühstückt habt, sondern nur noch Brot und Käse."
So weckt man Jugendliche auf - Vanessa weiß genau, wo diese Übung hinführen soll. Nachfühlen, wie das ist, wenn das eigene Leben mehr und mehr reglementiert und reduziert wird.
Ein Junge fragt: "Durfte man dann überhaupt noch raus, Döner essen?" Da lachen alle.

Frieda lebt noch und Sarah ist die Kontaktperson

"Ich denke schon, dass wir sehr, sehr viele Kinder erreichen, die es sonst nicht erreichen würde. Vor allem durch diesen sehr niedrigschwelligen, emotionalen und sehr persönlichen Zugang ist es wesentlich einfacher für alle, zu diesem Thema zu finden, weil es ansonsten so abstrakt und weit weg ist. Aber durch dieses Erzählen von Geschichten können wir eben diese Distanz überwinden."
Gleich muss Meggie ganz allein Friedas Geschichte erzählen. Sie vergewissert sich, dass der Beamer noch immer funktioniert. Wieder flimmert das Bild der Zeitzeugin über die Wand. Mit diesem Portraitfoto hat die Arbeit des Vereins Zweitzeugen angefangen. Eine Design-Studentin aus Deutschland ist Mitgründerin. Sie hat dieses Foto aufgenommen, vor zehn Jahren, in Israel.
Sarah Hüttenberend (l.) und Katharina Müller-Spirawski, Gründerinnen von Zweitzeugen e.V.
Sarah Hüttenberend (l.) und Katharina Müller-Spirawski haben Zweitzeugen e.V. gegründet.© Elin Hinrichsen
Sarah Hüttenberend lebt in Köln und sie ist diejenige, die Frieda persönlich kennengelernt hat und die übers Telefon immer noch Kontakt hält zu der 99-Jährigen. Sie ist mit einer Freundin damals nach Israel gereist, um für ihre Abschlussarbeit an der Uni Portraits von Überlebenden des Holocausts anzufertigen und um herauszufinden, wie ihr Leben nach 1945 weitergegangen ist.
Sarah und ihre Kommilitonin müssen sich damals tüchtig ins Zeug legen, um an Frieda überhaupt ranzukommen.
"Für mich war diese Begegnung besonders. Eine Frau mit so einem großen Herzen, sie war damals schon 90, als ich sie getroffen habe, unglaublich lebensfroh und stark."
Sarah ruft alle paar Wochen bei Frieda zuhause an.
"Es ist immer gemischt, zum einen hat man schon Sorge, wie sie dran geht, also, ob sie einen wieder erkennt. Gleichzeitig ist es natürlich verrückt, sie vor zehn Jahren kennengelernt zu haben und dass wir oder ich ein so großer Teil in ihrem Leben bin. Man fühlt sich ja doch sehr klein."
Frieda ist nicht nur Überlebende des Holocausts. Frieda ist auch eine Art Berühmtheit. Sie ist jahrelang durch die Welt gereist und hat Vorträge über ihr Leben gehalten: an Schulen und Universitäten, vor Honoratioren und Staatsoberhäuptern, bei Talkshows im Fernsehen.
Sarahs Interview-Anfrage lehnt sie zunächst ab. Aber die bleibt hartnäckig und irgendwann klappt es. Die beiden haben sofort einen Draht zueinander.
Das Interview damals ist der Beginn einer Freundschaft. Und irgendwie auch der Beginn des Vereins "Zweitzeugen e.V. – Heimatsucher heute", der die Begegnung von Schülerinnen und Schülern einer 10. Klasse in Duisburg mit der Überlebenden Frieda Kliger möglich macht. Nicht direkt, aber über Zweitzeugin Meggie.

Die Klasse ist ganz still – Ausgrenzung kennen viele

Meggie projiziert das Foto von Frieda an die Wand. Sie holt tief Luft und fängt an zu erzählen.
"Frieda Kliger ist am 14.03.1921 in Warschau geboren, als viertes von vier Kindern, also sie war die jüngste, sie hat zwei Schwestern und einen Bruder und als sie ganz klein ist, geht ihr Vater für zwei Jahre nach Argentinien."
Ein dicker Bindfaden als Zeitstrahl mit Friedas Geschichte, daneben Karteikarten auf denen Jahreszahlen und Wörter wie "Israel" und Zitate stehen
Meggie hat einen Zeitstrahl auf den Boden gelegt, einen dicken weißen Bindfaden, daneben legt sich Karteikarten mit Stichworten, Zitaten und Jahreszahlen.© Elin Hinrichsen
Es ist still in der Klasse, alle hören aufmerksam zu. Meggie hat einen Zeitstrahl auf den Boden gelegt, einen dicken weißen Bindfaden. Neben ihr auf dem Stuhl liegen zwei Stapel Karteikarten, handbeschrieben. Die grünen mit den Stichworten und Jahreszahlen legt sie – wann immer sie ein neues nennt - auf die rechte Seite des Bindfadens; die gelben mit den Zitaten auf die linke.
"Frieda sagt, sie hatte eine glückliche Kindheit. Sie sagt wörtlich: 'Es war eine glückliche Kindheit, wir spielten, meine Stiefmutter war lieb zu mir und ich konnte mein Leben leben und genießen.'"
Eine glückliche Kindheit und sehr gute Schulnoten. Frieda möchte aufs Gymnasium gehen, erzählt Meggie, dafür braucht sie ein Stipendium. "Das klappt", verspricht ihr die Lehrerin.
"Die Lehrerin wurde aber dann krank und kam nicht wieder, stattdessen kam eine neue Lehrerin, die war sehr streng. Und Frieda erzählt: 'Sie nahm das Klassenbuch, um unsere Noten zu studieren. Ich hatte ein 'sehr gut' in allen Fächern und sie sagte: 'Was, ein 'sehr gut' in Sprache für eine Jüdin?' Sie sagte, dass Juden kein 'sehr gut' haben können.' Und die neue Lehrerin hat Frieda schlecht behandelt und ihr schlechte Noten gegeben, obwohl sie sich sehr bemüht hat und immer viel gelernt hat."
Die NS-Zeit ist da, die Schikane beginnt. Frieda bekommt kein Stipendium, geht nicht aufs Gymnasium, sondern sie macht eine Lehre als Näherin. 1940 wird das Warschauer Ghetto gegründet und alle jüdischen Einwohner der Stadt, also auch Frieda und ihre Familie, müssen in diesen Bezirk ziehen. Viel zu wenig Raum für all diese Menschen.
Weil sie jung und gesund ist, bekommt Frieda eine Arbeitserlaubnis für außerhalb des Ghettos und flickt in einer Nähfabrik die Kleidung deutscher Soldaten. Sie bekommt für einige Zeit einen kleinen Lohn, erzählt Meggie. Damit geht es ihr besser als den meisten anderen im Ghetto.
"Und sie sagt: 'Mit meinem ersten Gehalt kaufte ich Milch und Brot und ging zu meiner Schwester. Ich legte meinem Neffen das ganze Essen auf den Tisch. Mein Neffe hatte immer Hunger und er konnte gar nicht glauben, dass das ganze Essen für ihn war. Ich war die glücklichste Frau überhaupt'. Sie hat eben ein ganz enges Verhältnis zu ihrem Neffen Lutek gehabt und sie hat ihm dann Essen gebracht und er hat sich sehr darüber gefreut."

Friedas Foto an der Wand, auf dem Arm eine Nummer

Meggie wird mit jedem Satz sicherer und die Jugendlichen hängen ihr an den Lippen. Mit Frieda können sie sich identifizieren, mit dieser benachteiligten, fies behandelten jungen Frau. Ausgrenzung kennen die Jugendlichen aus ihrem eigenen Leben. Und dann steht wieder das Porträt an der Wand von der mürrischen Frieda, eine Nummer auf dem Arm.
Frieda Kliger erzählt, Sarah Hüttenberend hört zu
Frieda Kliger erzählt, Sarah Hüttenberend hört zu - und trägt ihre Erzählungen und Erlebnisse weiter.© Zweitzeugen e.V.
Vor zehn Jahren wurde es aufgenommen von der Designstudentin Sarah, die später eine Ausstellung machte, die noch viel später den Verein "Zweitzeugen" mitbegründet hat und die heute noch zur 99-Jährigen Frieda Kontakt hält.
Als Sarah Hüttenberend und Frieda Kliger sich vor zehn Jahren das erste Mal begegnen, ist das für beide einschneidend. Frieda spricht zum ersten Mal seit der NS-Zeit mit einer Deutschen. Und diese Deutsche erkennt in dem Gespräch mit der Zeitzeugin in Israel, dass sie auf ihrem Lebensweg an einer Gabelung steht.
"Für mich war Frieda eigentlich eine der Begegnungen, die für mich dieses Thema so wichtig gemacht haben und mir Mut gemacht haben, daran weiterzuarbeiten."
Beim heutigen Telefongespräch will Frieda noch das Neueste über Sarahs Tochter wissen.
"So we should be in touch and hopefully we will meet again. Give a little kiss to your daughter!"
Frieda liebt Kinder. Mit ihrer ersten großen Liebe konnte sie keine Familie gründen. Sie hat ihren Freund im KZ Majdanek zum letzten Mal gesehen. Da war sie 22. Er wurde dort ermordet, sie wird etwas später nach Auschwitz deportiert.
Nach Kriegsende kommt sie in ein Camp für Menschen ohne Bleibe und lernt Romek kennen. Frieda und Romek waren das erste jüdische Paar, das nach dem Krieg heiratet. Die beiden finden eine neue Heimat in Israel und bekommen zwei Kinder, später vier Enkelkinder. Jeden Tag sprechen sie über ihre Erlebnisse in Auschwitz.
Auschwitz. In der Schule in Duisburg ist dieser Überlebensabschnitt der Zeitzeugin gerade Thema. Frieda ist ganz allein, erzählt Meggie, die Zweitzeugin. Frieda hat ihre Neffen und ihre ganze Familie verloren. Sie ist zweimal aus der Gaskammer entkommen. Sie ist nach Auschwitz deportiert worden. Dort beschließt sie, sich umzubringen. Tod durch Erschießen. Sie rennt auf den Zaun des KZs zu, erzählt Meggie.

Frieda will sterben - und überlebt

"Auf einmal schrie ein Wachoffizier 'Lauf weg, Mädchen, oder ich muss ich Dich erschießen!' Das ist wirklich bemerkenswert. Ich wollte sterben, aber als er schrie 'lauf weg', da bin ich weggelaufen. Ich habe mich nicht umgebracht. Der Instinkt zu überleben war noch stärker als mein Wunsch, zu sterben."
Ein Junge meldet sich und ruft: "Das war doch das von der Karte." Er hat das Zitat von Frieda am Anfang des Workshops auf der Postkarte gefunden und sich genau diese Überlebensgeschichte ausgesucht.
In Meggies Erzählung ist es Januar 1945. Hitler lässt die KZs in Frontnähe räumen. Auch Frieda muss einen sogenannten Todesmarsch mitmachen: zu Fuß von Auschwitz-Birkenau im Süden Polens bis ins KZ Ravensbrück, kurz vor Berlin. 700 Kilometer zu Fuß.
"Wenn man zurück blieb oder sich kurz ausruhen wollte, dann wurde man auch erschossen oder einfach zurück gelassen zum Sterben", zitiert Meggie die Zeitzeugin Frieda.
Detaillierter hat Frieda in dem Interview mt dem Verein nicht vom Todesmarsch erzählt. Aber davon, dass britische Truppen sie aus dem KZ Bergen-Belsen befreien. Und sie hat Sarah, der Vereinsgründerin, in diesem Interview damals von Romek vorgeschwärmt, ihrem späteren Ehemann.
Einige Tage später. Geburtstagsbesuch in Bünde, Westfalen, hier ist der Verein "Zweitzeugen" zuhause, im ersten Stock bei Katharina Müller-Spirawski. Die wird heute 28 und hat Mitstreiterin Sarah eingeladen. Kati führt die Vereinsgeschäfte, in Vollzeit. Die Begegnung mit einer Zeitzeugin hat dazu geführt, dass sie ihr Leben der Erinnerung verschrieben hat, zuerst an der Uni, später im Verein Zweitzeugen e.V. Die alte Dame sagt ihr damals: "Ich habe das KZ nur überlebt, um meine Geschichte weiterzuerzählen. Ich würde es auch vor Grundschülern tun."
Das war für Kati, die damalige Lehrerin, eine Art Initiation. Sie schließt sich mit Sarah zusammen, die an ihrer Ausstellung mit den Porträtfotos arbeitet. Es ist die Geburtsstunde des Vereins, der heute "Zweitzeugen e.V." heißt. 2014 war das.
"Erstmal war die Frage im Raum: Können wir das? Funktioniert das? Gerade so große Gruppen von Jugendlichen im Alter von 14, 15 haben mir auch Respekt eingeflößt, weil das ja Geschichten waren, die so wichtig waren, die einem am Herzen lagen, man hatte so Sorge, nehmen die das ernst, nehmen die uns ernst?"
Die Sorge war unbegründet. Die Schüler nehmen es ernst. Und die Schulen rennen den Frauen die Bude ein.
"Das sind so drei Komponenten zu sagen: Es ist der ganze Mensch, nicht nur die Zeit des Holocausts. Es geht bis ins Heute und wird aus einem Heute betrachtet. Und das auch von jungen Menschen für junge Menschen aufgearbeitet, die einfach doch noch einen sehr neuen und persönlichen Zugang bieten."

Geschichte soll weiterleben

Schon bald ist die Erinnerungsarbeit nicht mehr rein ehrenamtlich und nebenher zu stemmen. Die Vereinsgründerinnen richten ihr Leben neu aus.
"Ich meine, Du wärst Grundschullehrerin geworden. Ich wäre Designerin geworden. Wir sind keine Historiker im klassischen Sinne, und trotzdem haben diese Menschen uns so etwas Essenzielles gelehrt, wo wir gesagt haben, erstens kann man das nicht vergessen. Und das ist etwas, was auch andere erfahren müssen. Ich habe jetzt eine gewisse Verantwortung, dass diese Geschichte auch weitergetragen wird, weil es wäre unverantwortlich, wenn Kinder und Jugendliche das nicht erleben oder nicht verstehen können."
In der Duisburger Schule sind die Zehntklässler mittendrin im Erleben und Verstehen. Meggie zeigt ein Foto von Frieda inmitten von Freunden und Verwandten, es wurde bei einer Theateraufführung ihrer Enkelin aufgenommen. Die alte Dame lacht und fühlt sich offenbar wohl. Sie und ihr Mann, so erzählt Meggie, haben 1947 angefangen, sich in Israel ein neues Leben aufzubauen. Das war nicht einfach, aber sie haben sich zuhause gefühlt.
"Und sie sagt, 'Heimat ist wie das Nest für einen Vogel, Heimat ist die Liebe, die Du um Dich herum fühlst. Es bedeutet, sagen zu können, was Deine Gedanken sind, was Dich schmerzt und was Dich stört. Heimat ist, wenn Du die Leute um Dich herum hast, die Du liebst.' Und in Israel hat sie eben zwei Kinder bekommen, sie hat zwei Kinder, vier Enkel und drei Großenkel, also auch eine große Familie."
Meggie legt eine letzte gelbe Karteikarte an den Zeitstrahl auf dem Fußboden, an den Bindfaden: Israel steht darauf. Friedas Geschichte ist zuende.
"Ihr könnt es ein bisschen sacken lassen. Und Euch die Zitate noch mal anschauen."
Meggie zeigt noch ein letztes Mal das große Porträt-Foto: Frieda Kliger zuhause am Esstisch, mit verkniffenem Gesicht und entblößter Häftlingsnummer. So wollte sie sich der Fotografin präsentieren. Die Nummer gehöre nun mal zu ihr, hat Frieda damals gesagt: zu ihrem Leben, zu ihrer Geschichte. "Was hat Dir geholfen, nach 1945 weiter zu machen?", fragt damals die Fotografin und spätere Vereinsgründerin alle Zeitzeugen, die sie porträtiert.
"Ganz, ganz viele Menschen haben sich zum Beispiel auch noch umgebracht. Weil sie es nicht ertragen haben, mit diesen Erinnerungen aus den Konzentrationslagern zu leben. Und Frieda hat uns zum Beispiel gesagt: 'Mir hat es geholfen, dass ich so schnell meinen Mann kennengelernt habe, dann nach Palästina, dem späteren Israel gegangen bin.' Israel ist erst 1948 gegründet worden", berichtet Sarah.
"'Und dass meine Enkelkinder zum Beispiel heute alles das machen konnten, was ich nicht machen konnte. Zum Beispiel zur Schule gehen oder ihren Traumberuf ergreifen können.' Frieda wäre gerne Ärztin geworden. Deshalb sagt sie: 'Das ist tatsächlich mein Sieg so ein bisschen über Hitler und auch über die Nationalsozialisten, denn die wollten uns alle umbringen. Und ich lebe und ich habe so viele Kinder und Enkelkinder.'"

Alle sind jetzt Zweitzeugen

Die Klasse ist mucksmäuschenstill. Und dann gucken sie noch einen Film zusammen: Wie verschiedene Zeitzeugen, Männer und Frauen in hohem Alter, Briefe überreicht bekommen. Dutzende Briefe von Schülerinnen und Schülern. Auch die 10c soll jetzt an Frieda schreiben. Vanessa und Meggie teilen eigens hierfür farbiges Papier aus. Jetzt wird es unruhig.
"Was sollen wir denn schreiben?" "Liebe Frieda Kliger... und dann?"
Manche schreiben sofort los, andere zaudern noch. Wer schreibt heute schon noch Briefe? Und wie geht das überhaupt?
"Überlegt mal, worüber sie sich freuen würde", rät Meggie. Sie geht mit Vanessa herum, beide schauen den Schülerinnen und Schülern über die Schulter. Sie werden in diesem Moment von Zuhörern zu handelnden Personen. Sie bringen ihre Gedanken und Gefühle zu Papier.
Ein Mädchen schreibt: "Ich habe schon Krieg erlebt, also ich kann viel schreiben." Ein anderes sagt: "Dass die eine starke Frau ist, dass sie ihre Geschichte weitererzählen soll, weil für uns, die neue Generation, wir sollen davon halt Vieles erfahren."
Ein Junge notiert: "Ich finde es auch so schlimm, weil wenn ich meine Familie verlieren würde oder getrennt wäre, dann wäre ich auch voll traurig." Und sein Nachbar findet Friedas Geschichte: "Voll krass und so, unglaublich, was mit der passiert ist und dass sie immer noch lebt und davon erzählt hat."
"Ihr seid jetzt Zweitzeugen von Frieda", das gibt Meggie den Jugendlichen am Ende mit auf den Weg. "Erzählt ihre Geschichte weiter." Vor ein paar Stunden konnten die Schülerinnen und Schüler mit diesem Begriff - Zweitzeugen - noch nichts anfangen. Jetzt füllt er sich mit Inhalt. Und nicht nur das. Er füllt sich mit Leben.

Eine Wiederholung vom 23. August 2020.
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